© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/23 / 15. Dezember 2023

Sie hat ihre Schuldigkeit getan
Denkmalsturz einer international gefeierten Ikone: Vom Aufstieg und tiefen Fall der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg
Thorsten Hinz

Die schwedische Klima-Ikone Greta Thunberg wird gerade außer Dienst gestellt. In Deutschland und anderswo. Als sie im November auf einer Klimakundgebung in Amsterdam vor 85.000 Teilnehmern zu einer Pro-Palästina-Rede ansetzte, riß ihr ein Teilnehmer das Mikrofon aus der Hand. Die deutsche Sektion der Fridays-for-Future-Bewegung distanziert sich von ihr wegen ihrer Äußerungen zum Nahost-Konflikt; der Campus Verlag hat sie als Werbefigur verbannt. Kritiker betonen ihre bleibenden Verdienste um die Klimabewegung, doch nun füge sie ihr großen Schaden zu. Die grüne Bundesumweltministerin moniert ihre „unsäglichen Äußerungen“, der grüne Finanzminister von Baden-Württemberg twittert gar: „Komplett lost.“ Wobei „lost“ in dem Fall wohl mit „verrückt“ übersetzt werden darf. 

Früher wäre solche Fundamentalkritik entweder als Sakrileg oder als Denkmalsturz, als Ikonoklasmus, vermerkt worden. Heute nimmt man sie geschäftsmäßig zur Kenntnis, als handele s sich nur noch um die Entsorgung eines aus der Mode gekommenen Maskottchens.

Was Thunberg von sich gibt, bleibt durchaus im Rahmen dessen, was friedensbewegte junge Leute anläßlich militärischer Konflikte weltweit von sich geben. In der Erklärung, die sie mit zwei weiteren schwedischen Akteuren verfaßt und unter anderem im britischen Guardian veröffentlicht hat, äußert sie sich differenzierter, als das die Schlagzeilen der deutschen Medien suggerieren. „Die schrecklichen Morde an israelischen Zivilisten durch die Hamas können in keiner Weise die anhaltenden Kriegsverbrechen Israels legitimieren“, heißt es da. Die Verfasser berufen sich auf „Hunderte internationale Wissenschaftler“, die „vor einem sich ausbreitenden Völkermord gewarnt“ haben und führen explizit den israelischen Völkermordexperte Raz Segal an. Die Sterblichkeitsrate im Gazastreifen befände sich „auf einem historischen Höchststand“. Thunberg & Co. beklagen, daß die „grundlegende gesellschaftliche Infrastruktur und zivile Ziele wie Krankenhäuser, Schulen, Unterkünfte und Flüchtlingslager“ zerstört werden. Israel habe eine Belagerung verhängt und verhindere, daß Nahrungsmittel, Medikamente, Wasser und Treibstoff die 2,3 Millionen im besetzten Gazastreifen gefangenen Palästinenser erreichen. 

Natürlich kann man einwenden, daß es sich um eine Aufzählung von Teilwahrheiten handelt, die der Komplexität des Nahost-Problems nicht gerecht wird. Doch das trifft auf Thunbergs Äußerungen zum Klima ebenfalls zu. So stellt sich die Frage, warum das eine als Tollheit, das andere aber nach wie vor als Offenbarung behandelt wird. Die Antwort lautet: Es geht nicht um Wahrheitsansprüche, sondern um Dezisionismus. Das eine erscheint politisch nützlich, das andere als schädlich. 

In der Klima-Frage wurde Thunberg seit ihrer Entdeckung 2018 von Politik und Medien zur Pythia, zur Seherin und Künderin, erhoben. Da war sie 15, ein autistisches, kleinwüchsiges Mädchen, das dem Mobbing in der Schule entfloh, indem sie in den Schulstreik trat und sich mit einem Klima-Plakat vor dem schwedischen Parlament plazierte. Der Anblick führte zu Ausbrüchen ins Irrationale.

Der amerikanische Beststellerautor T.C. Boyle meinte: „Greta Thunberg ist eine moderne Heilige“. Gewiß, Schriftsteller dürfen schwärmen, das ist ihr Privileg. Doch auch Männer vom Fach, Kirchenleute, sanken vor ihr auf die Knie. Der frühere Primas der Anglikaner, Rowan Williams sagte: „Gott hat in Greta Thunberg eine Prophetin auf eine Weise erweckt, die niemand vorhersagen konnte. Sie hat Dinge gesagt, die sonst niemand hätte sagen können. Gott sei Dank für sie.“

Der Bischof der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg, Christian Stäblein, erklärte: „In der Bibel nennt man Menschen, die ihre Umwelt wachrütteln, aufschrecken, mit der Wahrheit konfrontieren: Propheten. Im Nerv treffen liegt jedenfalls etwas Prophetisches. (...) Greta Thunberg rüttelt wach. Sie sagt, was an der Zeit ist. Für die Schöpfung Gottes.“

Die Theologische Fakultät der Universität Helsinki verlieh ihr einen Ehrendoktortitel. Thunberg habe „uns alle“ mit ihrer „kompromißlosen und konsequenten Arbeit für die Zukunft unseres Planeten“ vor die Aufgabe gestellt, „als Mitglieder von Gemeinschaften und Gesellschaften, vor allem aber als Menschen, unser tägliches Leben zu ändern“. Auf dem Gelände der britischen Universität Winchester wurde eine lebensgroße Greta-Statue errichtet.

Man könnte die Aufzählung fast endlos fortsetzen. Auf den Fotos der frühen Fridays-for-Future-Bewegung drängelten deutsche Klima-Aktivisten wie Luisa Neubauer, Carla Reemtma, Jakob Blasel sich neben sie, um von ihrem Heiligenschein einen Abglanz zu erhaschen. Werbetechnisch heißt das „Imagetransfer“. Sie wurde von Staats- und Regierungschefs und vom Uno-Generalsekretär empfangen, trat auf internationalen Konferenzen und vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos auf.

Als sie 2018 zur öffentlichen Person wurde, sah sie eher wie eine Zwölf- und nicht wie eine Fünfzehnjährige aus. Sie vereinte in ihrer Erscheinung die Unschuld des Kindes mit einer Insel-Intelligenz beziehungsweise Inselbegabung, die sie frühreif wirken ließ. Inselbegabung – Thunberg spricht  von „Spezialinteresse“ – bedeutet, daß Personen außergewöhnliche Leistungen in kleinen Teilbereichen („Inseln“) vollbringen können, obwohl sie eine kognitive Behinderung – in ihrem Fall Autismus – oder eine Entwicklungsstörung aufweisen. Das heißt eben auch, daß sie das spezielle Problem, das sie interessiert, nur isoliert wahrnehmen und Zusammenhänge ausblenden. Das führt schnell zur Eindimensionalität des Denkens, zu Erstarrung und Fanatismus. 

Thunberg berief sich auf eine besondere Verdrahtung ihrer Hirnstrukturen. Doch spätestens als sie im Januar 2019 in Davos ausrief: „Ich will, daß ihr in Panik geratet!“, und nach ihrer „Wutrede“ beim UN-Klimagipfel im November 2019 in New York, bei der sie unmögliche Grimassen schnitt, mußte jedem klar sein, daß es sich um ein hilfsbedürftiges Mädchen handelt, das an ganz anderen Problemen als am Klima litt. Trotzdem wurden weiterhin messianische Erwartungen auf sie projiziert. Der Vorwurf trifft nicht nur ihre ehrgeizigen und gewinnorientierten Eltern, sondern auch die vorgeblich aufgeklärte, rational handelnde und diskursive Gesellschaft, die ihre Sehnsucht nach dem Wundertäter, der das Weltchaos von einem zentralen Punkt erklärt und ordnet, nicht zügeln mochte.

Mit der Palästina-Frage will Thunberg sich offenbar ein neues Themenfeld erschließen. Unter der Hand ist ihr Einfluß auf die Klima-bewegung längst im Schwinden begriffen. Als sie die Klima-Konferenz im ägyptischen Sharm el Sheik im Oktober 2022 unter Hinweis auf die Menschenrechtslage in Ägypten und die eingeschränkten Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher Akteure boykottierte, hielt das andere Klima-Aktivisten keineswegs davon ab, trotzdem anzureisen. Ähnlich verhält es sich mit dem aktuellen Klimagipfel in Dubai. 

Aufschußreich ist ein Interview, das die Schweizer Tageszeitung Blick Ende 2021 mit ihrem Entdecker und ehemaligen Förderer, den Schweden

Ingmar Rentzhog, führte. Rentzhog ist Gründer und Chef von „We don’t have time“. Die Organisation stellt sich als „eine Bewegung und ein Technologie-Startup“ vor, „das die Macht der sozialen Medien nutzt, um Führungskräfte und Unternehmen für den Klimawandel zur Verantwortung zu ziehen“. Der Internetauftritt zeigt fröhliche junge Menschen, die irgendwann im Leben „aufgewacht“ seien und angefangen hätten, sich Sorgen „über die Gesundheit der Erde“ zu machen.

Rentzhog erläuterte ungeniert, daß das Greta-Phänomen vor allem das Ergebnis kühler Überlegung ist: „Greta ist ein Talent, und ich bin gut darin, Talente zu finden.“ Es sei 2018 an der Zeit gewesen, die Klimafrage zu personalisieren. Jemand aus der Bewegung habe ihn auf Gretas Sitzstreik vor dem Parlament hingewiesen. Da saß sie also, „(g)anz allein, als würde sie das ganze Gewicht der Welt auf ihren Schultern tragen. Die Leute sind an ihr vorbeigegangen, als wäre sie eine Bettlerin. Das hat mich bewegt.“ 

Mit anderen Worten: Der PR-Profi hat sofort ihr spezielles Werbepotential erkannt. „Wir haben schon vorher Aktivistinnen und Aktivisten auf unserer Plattform gezeigt. Aber niemanden, der oder die so echt war und so leidenschaftlich darin, unsere Botschaft auszudrücken. Greta war so speziell, weil sie nicht zu einer Organisation gehörte, keine Gruppe hatte, sondern allein agierte.“

Er resümierte: Sie habe „einen unglaublichen Job gemacht“ und „die Entwicklung bestimmt um fünf oder zehn Jahre beschleunigt. Aber wenn sie es nicht gewesen wäre, wäre es vielleicht jemand anders gewesen.“ Sie ist also keine Heilige, die der Gottheit in jeweils einmaliger Weise nahesteht, sondern eine ersetz- und austauschbare Werbefigur. Daran ändert auch nichts, daß in ihrem Fall ein kontaktarmes Mobbingopfer endlich Aufmerksamkeit und sogar Zuneigung auf sich ziehen konnte. Die irrationale Euphorie, die Greta auslöste, entspringt einer sehr rationalen, geschäftlichen Kalkulation. 

Schon vor zwei Jahren war Rentzhog klar, daß die „Marke Greta“ an Zugkraft einbüßte. Inzwischen ist ihre kindliche Anmutung ganz entschwunden, ohne daß sie die Züge einer jungen Frau angenommen hat. Sie erscheint als ein skurriles Wesen mit einem Gesicht, das Anklänge an das Downsyndrom aufweist. Rentzhog drückte das höflicher aus: „Sie ist jetzt 18 Jahre alt, erwachsen. (...) Es wird Zeit für sie, nicht mehr nur die Führungselite zu kritisieren, sondern selbst Verantwortung zu übernehmen. Sie könnte eine großartige Politikerin werden.“ Zum Beispiel Ministerpräsidentin von Schweden oder, noch besser, auf internationaler Ebene. Man mag entscheiden, ob er das spöttisch oder tröstlich meinte.

Rentzhog war als Unternehmer lange in der Finanzindustrie tätig und beriet etwa Blackrock, JP Morgan oder die UBS bei der Kommunikation mit Investoren. Der klimapolitische Umbau, den er propagiert, soll neue Anlagemöglichkeiten für das Kapital schaffen. Greta hat dabei ihre Schuldigkeit getan. Mit ihren Äußerungen zum Nahen Osten liefert sie den Vorwand, sie als überfälliges Maskottchen zu entsorgen.