© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/23 / 15. Dezember 2023

Sicherheitspolitisch auf dem Niveau von Luxemburg
Der Berliner Ökonom Markus C. Kerber kritisiert Deutschlands Strategie-Defizit in seiner Rüstungswirtschaft unter dem Verdikt der „Zivilklausel“
Erich Weede

Markus C. Kerber ist sowohl Jurist als auch Professor für öffentliche Finanzwirtschaft und Wirtschaftspolitik an der TU Berlin. Von dem in den 1930er Jahren ebenso einflußreichen wie umstrittenen Juristen Carl Schmitt inspiriert, wirft Kerber die Frage auf, ob man durch den Verzicht auf eigene Wehrfähigkeit Sicherheit oder gar Freunde gewinnen kann. Er unterstellt den dominanten Politikern in Deutschland, daß sie diese Frage fälschlich und gedankenlos bejahen. Diese dominante Form der Gedankenlosigkeit kann allerdings für sich in Anspruch nehmen, zumindest oberflächlich zu den Erfahrungen aus der deutschen Geschichte zu passen. In beiden Weltkriegen gab es kein Defizit an deutscher Wehrhaftigkeit, sondern einen Überfluß an Feinden. Genützt hat uns die Wehrhaftigkeit damals nichts. 

Mit der Unterstellung der deutschen Streitkräfte unter amerikanisches Kommando in der Nato haben wir auf eigenständige Wehrhaftigkeit verzichtet. Diese Politik hat erst die Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft, ein steigendes Volkseinkommen und später sogar die Wiedervereinigung erlaubt. Diese Abfolge der Ereignisse ist mit der Auffassung kompatibel, daß ein geringes Maß an selbständiger Wehrfähigkeit zumindest unschädlich ist. Je kleiner und einzigartiger der historische Ausschnitt ist, aus dem man lernen will, desto fragwürdiger wird die Schlußfolgerung. Briten und Franzosen, Amerikaner und Israelis haben andere Lehren aus der Geschichte gezogen. Man sollte sich Kerbers Widerstand gegen die herrschende Meinung und Gedankenlosigkeit anschließen. Putins Einmarsch in die Ukraine zeigt zumindest, daß Feindschaft und Krieg nicht nur Probleme der Vergangenheit sind. 

Seiner juristischen Vorbildung entsprechend geht es Kerber um die Souveränität Deutschlands. Er ist Realist genug, um zu sehen, daß beliebig schwache Staaten de facto nicht souverän sein können, und verweist dabei etwa auf Luxemburg. Kerber verweist auch auf das atomare Vernichtungspotential Rußlands und auf die kleineren Atommächte Frankreich und Großbritannien, auf Deutschlands Abhängigkeit vom atomaren Schutzschirm der Amerikaner. Hier würde der Rezensent Kerber sogar widersprechen: Ohne nukleare Zweitschlagskapazität ist man de facto nicht souverän. Deutschland befindet sich trotz seiner Wirtschaftskraft in einer ähnlichen sicherheitspolitischen Situation wie Luxemburg. Zu Recht weist Kerber darauf hin, daß Frankreich keine Europäisierung seiner Atomstreitkraft will. Europa ist also kein Ausweg aus unserer Bedrohungslage. 

Besonders stark sind Kerbers Ausführungen zur Rüstungswirtschaft. Ob wirtschaftliche Kraft zur militärischen Sicherheit beiträgt, hängt wesentlich von deren Stärke ab. Hier hat die deutsche Regierung in der langen Regierungszeit Angela Merkels wenig getan, ob man an den Bau von Satelliten, Kampfflugzeugen oder U-Booten denkt. Bei der Zusammenarbeit mit Frankreich neigt Deutschland dazu, sich den Franzosen sogar dort unterzuordnen, wo Deutschland wie beim Bau von Panzern die stärkere Ausgangsposition hat. Auch die sogenannte „Zivilklausel“ trägt dazu bei, Deutschlands Rüstungswirtschaft zu schwächen, weil sie militärisch relevante Forschung an den Universitäten und Technischen Hochschulen praktisch unmöglich macht und sogar die Innovation bei „Dual-Use“-Technologien hintertreibt. Mit Kerber kann man fragen, wie diese Politik mit der grundgesetzlich garantierten Freiheit von Forschung und Lehre kompatibel ist. Außerdem macht Kerber sich Gedanken darüber, welche institutionellen Gegebenheiten man ändern könnte, ob beim Koblenzer Beschaffungsamt oder durch Aufbau eines nationalen Sicherheitsrates, um die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes wieder zu beleben. 

Im Stil zeichnet sich die Schrift durch eine Abwechslung von Parodie und schneidend scharfer Kritik aus. Das leuchtet mir nur an den Stellen ein, wo ich von der Inkompetenz oder dem Desinteresse an nationaler Sicherheit seitens der Ziele der Kritik genauso überzeugt bin wie Kerber. Kerber weist selbst darauf hin, daß seine kurze Schrift kein umfassender Vorschlag zur Überwindung des deutschen Strategie-Defizits ist, sondern nur der Anfang einer notwendigen Diskussion sein kann, die wir allzu lange bis Sankt Nimmerlein vertagt haben. Deshalb sind der Schrift viele Leser zu wünschen.

Markus C. Kerber: Führung und Verantwortung. Das Strategie-Defizit Deutschlands und seine Überwindung.

Edition Europolis, Berlin 2023, broschiert, 68 Seiten,  8,99 Euro