© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/24 / 01. März 2024

Die Kasse, das bin ich
Technisierung: Während deutsche Händler auf Kostenersparnisse aus SB-Kassen bauen, verringern US-Märkte deren Zahl inzwischen wieder
Paul Leonhard

Insbesondere die Jüngeren finden das hip: Selbstbedienungskassen. Rewe, Aldi, Bauhaus, Edeka, Rossmann, Real, Kaufland, Ikea und andere haben das Geschäftsmodell mit den Self-Checkout-Bereichen längst eingeführt. Kunden dürfen hier die Waren selbst scannen und bezahlen. Während der deutsche Einzelhandel in eine Self-Checkout-Zukunft investiert, kommen aus der Neuen Welt und auch aus Großbritannien ganz andere Signale. Daß die Kunden „selbst Kasse machen“ und die SB-Kassen heißliefen, ist dort nicht mehr der Fall.

In Deutschland ist noch SB-Boomland. Die Kameras schauen einem offensichtlich über die Schulter. Denn so richtig traut der Handel seinen Kunden nicht über den Weg. Potentielle Diebe sollen abgeschreckt werden. Es sieht nach Zukunft aus. Deutschlands Discounter und Baumärkte wollen so Lohnkosten sparen und Aufgaben auf ihre Kunden abwälzen. Noch sind Filialen, die ausschließlich Selbstbedienungskassen anbieten, äußerst selten. In den meisten Fällen sind diese ein zusätzliches Angebot zu den traditionellen Bändern mit Kassierern. Nach einer Studie zu „Self-Checkout und Self-Scanning-Systemen im Handel“ gibt es in Deutschland inzwischen mehr als 5.000 Geschäfte mit stationären oder mobilen Selbstbedienungskassen, wie das Handelsforschungsinstitut EHI Retail Institute Köln schreibt.

Das entspricht einer Steigerung von 117 Prozent gegenüber 2021. Der Fachkräftemangel im Handel mit einem anhaltendem Bedarf an qualifiziertem Personal begünstige derzeit das Self-Checkout-Angebot vieler Händler. SB-Systeme gelten als „moderne, flexible und zukunftsorientierte Kassensysteme“: Deutschlandweit bieten etwa 1.000 Geschäfte dies an. Auch per Smartphone-App ist der Einkauf im Laden möglich. 

Einzelhandel sucht Optionen, um Bargeld einzuschränken

Während Ende 2023 insgesamt 16.030 stationäre Selbstbedienungskassen in 4.217 Geschäften genutzt werden konnten (eine Steigerung um 153 Prozent gegenüber 2021), ermöglichen 2.252 Geschäfte (Steigerung um 119 Prozent) Self-Scanning entweder mittels Handscanner, per Einkaufswagen mit Scanner oder per App auf dem Smartphone. In etwa 1.400 Geschäften können die Kunden zwischen mindestens zwei Verfahren des Self-Checkouts wählen, geht aus der Marktanalyse unter 63 Unternehmen des Einzelhandels hervor.

Vorreiter ist der Lebensmitteleinzelhandel mit gut 60 Prozent. Offensichtlich sei diese Branche aufgrund der Zahl der Kunden und der Warenkorbgrößen am besten geeignet.

Noch in der Vorjahrsstudie schrieb das EHI, daß einerseits viele Kunden den App-Download und die in der Regel damit verbundene Registrierung als insgesamt zu kompliziert empfänden, andererseits der „Leidensdruck“ der Einkäufer aufgrund weniger Kassen noch nicht groß genug sei. Während die Mitarbeiter mangels Überzeugung den neuen Service den Kunden zu selten anböten, fehle letzteren die Bereitschaft, die eigenen Einkaufsgewohnheiten zu ändern, „mal was Neues“ auszuprobieren. Die Nutzung des Self-Scannings klagt das EHI, ist „überwiegend noch sehr gering“.

Das eigene Smartphone zum Einkaufen einzusetzen scheitere daran, daß es Herunterfallen könne, man weder Batterie noch Datenvolumen belasten möchte und freie Hände beim Einkauf haben wolle. Gleichzeitig wird die Akzeptanz von Bargeldzahlungen im Einzelhandel immer mehr eingeschränkt. Auch hier geht es vor allem aber darum, Kosten zu drücken, denn es sind weniger Abrechnungen erforderlich. 

Als die SB-Kassen eingeführt wurden, war die Möglichkeit der Barzahlung an den Terminals noch weit verbreitet. So konnten 2021 Kunden noch in 76 Prozent der Supermärkte mit SB-Kassen an diesen ihren Einkauf bar bezahlen, aktuell ist das nur noch in 44 Prozent möglich. Das EHI sieht hier einen anhaltenden Trend, auch wenn völlig kassenloses Self-Scanning mit Zahlung in der App erst wenige Händler eingeführt haben – im Herbst 2022 nutzten dieses nur 0,67 Prozent der Kunden.

Rewe stützt diese Ansicht. In den Märkten des Konzerns bezahle heute bereits jeder zweite seinen Einkauf an einer Selbstbedienungskasse. Aldi Süd hatte bereits Anfang vergangenen Jahres angekündigt, speziell in den großen Städten auf SB-Kassen umzustellen. In mehr als 100 soll das inzwischen passiert sein.

Die gute Kundenakzeptanz von Selbst-Checkout- und teilweise auch Self-Scanning-Systemen werde sicherlich dazu führen, daß in naher Zukunft weitere Unternehmen diesen Service anbieten werden, ist sich Frank Horst, Leiter der EHI-Initiative Selbst-Checkout und Experte für Inventurdifferenzen beim EHI, sicher: „Das Marktangebot an stationären Self-Checkout-Kassen wird weiterwachsen. Eine ähnliche Dynamik ist im Bereich des mobilen Self-Scannings per Handscanner und per Einkaufswagen zu erwarten.“ In zehn Jahren werde etwa jeder dritte Supermarkt über Selbstbedienungskassen verfügen.

Während junge Leute auf die Zeitersparnis setzen, stellen sich Rentner an diese Kassen um einen Kick zu bekommen, um zu zeigen, daß sie mit dem technischen Fortschritt mithalten können, zeigen Befragungen. Dazu kommt der Spaßfaktor, speziell das Erfolgserlebnis, auch diese Herausforderung gemeistert zu haben. Für Großeinkäufer mit randvollen Einkaufswagen sind die Terminals eher nicht das Ziel der Wahl.

Im englischsprachigen Raum kehrt sich der Trend schon wieder um

In den USA geht eine Gegenbewegung los. „Die Selbstbedienungskassen, die digitalen Lieblinge der Supermarktwelt, stehen möglicherweise am Scheideweg“, schreibt die Lebensmittelzeitung: „Die USA, stets ein Seismograph für technologische und gesellschaftliche Trends, senden Signale, die auf ein mögliches Ende dieser Ära hindeuten.“ Der US-Lebensmitteleinzelhandel hat nach Angaben des Branchendienstes Videomining 2022 etwa 55 Prozent seiner Transaktionen über SB-Kassen abgewickelt. Nach einer Studie der Beratungsfirma Catalina arbeiten sogar 38 Prozent der US-Supermarktkassen ganz ohne Personal.

Die Lebensmittelzeitung zitiert den Handelsexperten Phil Lempert, einen als „Supermarket-Guru“ bekannten TV-Promi. Dieser sieht das Ende der Selbstbedienungskassen nahen, basierend auf den negativen Kundenerfahrungen: „Ich denke, wir werden sehr bald das Ende der Selbstbedienungskassen erleben.“ Und Todd Vasos, Vorstandschef von Dollar General (19.000 Geschäfte), überraschte anläßlich der Veröffentlichung der Quartalszahlen mit der Aussage, Selbsbedienungs-Checkouts sollten „als Ausweichmöglichkeit genutzt werden, nicht als primäre Form der Bezahlung“.

US-Ketten wie Target, Costco, Wegmans und selbst Dollar General überdenken die Strategie, den Kunden das Scannen und Bezahlen der Einkäufe selbst zu überlassen. Einer der Gründe sind offenbar massive Kundenbeschwerden, teilweise aber auch Diebstähle. Walmart hat seine SB-Kassen in einigen Filialen komplett zurückgebaut. 

Unternehmen mit Selbstbedienungskassen verzeichnen eine Verlustrate von etwa vier Prozent, mehr als doppelt so hoch wie der Branchendurchschnitt, geht aus einer Studie hervor, für die Einzelhändler in den USA und europäischen Ländern befragt wurden.

In Deutschland scheint das aktuell kein gravierendes Problem zu sein. „An den Self-Checkout-Stationen oder beim mobilen Self-Scanning beobachten die allermeisten der befragten Handelsunternehmen keine erhöhten Diebstähle“, sagt EHI-Experte Frank Horst. Trotzdem wird deutschen Händlern empfohlen, regelmäßig Stichprobenkontrollen durchzuführen, um zu überprüfen, ob Kunden ihre Artikel korrekt gescannt und bezahlt haben, und damit diese wissen, daß „das Geschäft proaktiv gegen Diebstahl vorgeht“.

Genau das hat aber in den USA zu Protesten geführt. So hatte Costco Mitarbeiter abgestellt, die an den Ausgängen die Kassenbons kontrolliert haben, worauf sich viele Kunden einem Generalverdacht ausgesetzt sahen. Schlagzeilen machte ein Fall, in dem eine Frau fälschlicherweise nach einem Einkauf bei Walmart des Ladendiebstahls beschuldigt wurde und eine Entschädigung von 2,1 Millionen Dollar erstritt.

Target hat nach einem Bericht der britischen BBC damit begonnen, die Zahl der Waren zu reduzieren, die an den SB-Kassen bezahlt werden können. Auch die britische Supermarktkette Booths hat SB-Kassen lediglich in zwei ihrer insgesamt 30 Filialen belassen.

Alkoholeinkauf ist bei Selbstkassierern ein Problem

Wichtigster Grund für die Trendwende dürfte die abnehmende Akzeptanz durch die Kunden sein. Weil beispielsweise beim Kauf von Alkohol Altersprüfungen nötig sind, steigen an den SB-Kassen die Wartezeiten. „Es gibt jede Menge Ärger damit, und sobald man Alkohol in den Korb legt, muß jemand kommen und überprüfen, ob man das richtige Alter hat“, sagt Booths-Geschäftsführer Nigel Murray.

Auch gibt es immer wieder technische Probleme oder Unklarheiten beim Eingeben bestimmter Produkte, etwa wenn die Warnung „Unerwarteter Gegenstand in der Ablage“ erscheint und sich das Selbstbedienungsterminal mitten im Bezahlvorgang selbst sperrt. Dann muß der Selbstkassierer auf einen freien Mitarbeiter warten, während die Schlange an der klassischen Kasse an ihm vorbeizieht. Erfahrungen, die man beispielsweise in Rhode Island nicht mehr machen möchte, weswegen Regelungen geplant sind, daß der Einzelhandel mindestens pro Geschäft eine besetzte Kasse garantieren muß. Unternehmen setzen dagegen auf Rabatte. Kunden, die mehr als zehn Artikel selbst abwickeln, bekommen eine Gutschrift. Überdies sollen pro SB-Kasse jährlich 5.000 Dollar fällig werden, um die durch Personalabbau erzielten Gewinne teilweise abzuschöpfen.

Einen ganz anderen Weg geht dagegen die niederländische Jumbo-Kette. Die hat „Langsam-Kassen“ eingeführt. An diesen soll das Gespräch zwischen Kunde und Kassierer im Vordergrund stehen. 

Biep. „Und wann gehen Sie zum Frisör?“ Biep.