© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/24 / 22. März 2024

Den Rio Negro flußaufwärts
Reisebericht: Wer einen der Amazonas-Nebenarme befährt, trifft auf ein faszinierendes Durcheinander von Natur und verlassener Zivilisation
Wolfgang Bendel

Gemächlich kommt das Schiff zum Stehen. Ich sitze bequem auf dem obersten Deck und blicke über den Fluß in Richtung Ufer. Der Rio Negro, auf dem wir uns befinden, ist an dieser Stelle so breit und seine Fließgeschwindigkeit so gering geworden, daß man sich immer in Erinnerung rufen muß, nicht auf einem See, sondern auf einem Fluß zu sein. Vom gegenüberliegenden Ufer ist nur ein schmaler grüner Streifen sichtbar. Schnell würde er mit seiner Umgebung in der rasant heraufziehenden Dunkelheit verschmelzen. 

Die Dämmerung ist in den Zentraltropen nur ein Schauspiel weniger Minuten. Außer unserem Schiff sind keinerlei Anzeichen menschlicher Aktivität erkennbar. Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und überlege: Wie kam ich eigentlich in diese fast unwirklich anmutende Umgebung?

Rückblick: Vor einigen Tagen waren meine Frau und ich spät nach Mitternacht auf dem Flughafen von Manaus, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Amazonas gelandet. Selbst bei Menschen, die sich sonst kaum für Südamerika oder Geographie interessieren, löst die Nennung der beiden Worte Amazonas und Manaus Neugierde aus. Bevor wir den Rio Negro flußaufwärts reisen wollten, galt es einige der Sehenswürdigkeiten dieser Millionenstadt, die isoliert wie kaum eine zweite Großstadt auf der Welt inmitten unwegsamer Regenwälder liegt, zu begutachten. 

Weltweit berühmt wurde Manaus durch das Opernhaus, offiziell firmiert es als Theater, das Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge eines heute kaum noch vorstellbaren Kraftakts errichtet wurde. Infolge des Kautschukbooms waren die Gummibarone zu unvorstellbarem Reichtum gekommen und entwickelten die Idee, mitten im Dschungel ein Theater zu errichten, das einen Vergleich mit entsprechenden Einrichtungen in Europa oder Nord-amerika nicht zu scheuen bräuchte. Um die Verwegenheit dieses Planes zu verstehen: Damals war Manaus nur mit dem Schiff erreichbar, Flugzeuge und Straßen gab es nicht. Und die Ingenieure und Architekten mußten aus Europa anreisen. Manche erinnern sich vielleicht an den Film „Fitzcarraldo“ von Werner Herzog mit Klaus Kinski in der Hauptrolle, der sich diesem Thema annimmt.

Eine zweite Sehenswürdigkeit ist das Amazonasmuseum MUSA. Dieses liegt inmitten eines Naturreservats, das mit einer Fläche von 10.000 Hektar das weltweit größte seiner Art innerhalb von Stadtgrenzen ist. Ein 42 Meter hoher Aussichtsturm, der alle 14 Meter eine Plattform aufweist, dient dazu, den Regenwald von „innen“ und von oben zu sehen. Von der obersten Plattform aus kann man deutlich erkennen, wie die wassergeschwängerte Luft, Rauchschwaden gleich, zwischen den Bäumen herumwabert, während über diesen die Regenwolken thronen. Ein unvergeßlicher Anblick, der jedem Fantasyfilm zur Ehre gereichen würde. Sollte ein Dinosaurier um die Ecke schielen, die Überraschung hielte sich in Grenzen.

Nach diesen Erlebnissen ging es dann aufs Schiff, mit dem wir einige Tage den Rio Negro hinauffahren wollten. Der Rio Negro, der Schwarze Fluß, trägt seinem Namen zu Recht. Er ist in der Tat schwarzbraun, was auf den hohen Gehalt verschiedener organischer Säuren zurückzuführen ist, die das Wasser dunkel färben. Gleichzeitig hat dies zur Folge, daß der Rio Negro einen niedrigen, sauren pH-Wert hat. Dies erschwert die Bildung höheren organischen Lebens. Vorteil, kaum Mücken. Nachteil, wenige Fische. Beim Rio Solimões, mit dem er sich kurz nach Manaus vereinigen wird, ist die Sachlage genau umgekehrt. Höherer pH-Wert und damit viel mehr Fische, aber auch Mücken und andere Stechtiere ohne Zahl. Der Grund, warum Manaus am Rio Negro und nicht am Solimões gegründet wurde.

Die Isolation schützt vor dem Rest der Welt

Das Amazonasgebiet umfaßt circa sechs Millionen Quadratkilometer Fläche. Davon entfallen 60 Prozent auf Brasilien, 13 Prozent auf Peru und 10 Prozent auf Kolumbien. Der Rest verteilt sich auf weitere sechs Staaten. Der brasilianische Bundesstaat Amazonas ist über 1,5 Millionen Quadratkilometer groß und bedeckt damit ein gutes Viertel der Gesamtfläche. Interessanterweise leidet er mit Abstand am wenigsten unter den zerstörerischen Aktivitäten des Menschen. Warum das so ist, erklärte uns einer der polyglotten und überaus kenntnisreichen Führer: „Nicht Gesetze, NGOs oder Verbote schützen den Regenwald in unserem Bundesstaat, sondern seine Isolation vom Rest der Welt. Mit Ausnahme einer Verbindungsstraße nach Venezuela, die aus geopolitischen Gründen irrelevant ist, gibt es keine einzige für normale Fahrzeuge befahrbare Straße, die Manaus und den zentralen Teil des brasilianischen Amazonasgebiets mit der Außenwelt verbindet. Es ist also beispielsweise für Holzfäller oder Sojaproduzenten nahezu unmöglich, diese illegal erworbenen Produkte gewinnbringend zu verwerten, weil ihr Abtransport in rentablen Mengen unmöglich ist. Die einzige Möglichkeit wäre der Amazonas selbst und den kann man im Gegensatz zu Hunderten Straßen viel leichter kontrollieren.“

Das Thema Indianer bzw. indigene Völker ist vielschichtig. Da ich mich nicht an nerviger ideologischer Wortklauberei beteiligen will, benutze ich beide Begriffe synonym. Es gibt grob gesprochen vier verschiedene Gruppen, die sich unterschiedlich intensiv in die brasilianische Mehrheitsgesellschaft integriert haben. Die Caboclos, Mischlinge aus Indigenen und Weißen, unterscheiden sich in ihrem Verhalten kaum vom durchschnittlichen Brasilianer. Dann gibt es indigene Gruppen, die sich ihrer Herkunft durchaus bewußt sind, andererseits aber ungern auf die angeblichen oder wirklichen zivilisatorischen Errungenschaften verzichten wollen. Dort gibt es Schulen, Läden und Restaurants, sogar kleine Pensionen, Pousadas genannt. Die eigene Sprache wird gepflegt, der Kontakt mit der Außenwelt ist regelmäßig. Ganz anders sieht es mit Indianerstämmen aus, die nach wie vor und grundsätzlich jeden Kontakt mit der Außenwelt ablehnen. 

Unser Führer gab hierzu einige interessante Informationen preis: „Es wird geschätzt, daß es im gesamten Amazonasgebiet noch etwa 100.000 Indigene gibt, die grundsätzlich jeden Kontakt mit der Außenwelt ablehnen. Die Behörden treten nur vereinzelt mit ihnen in Kontakt, fahren mit kleinen Motorbooten die Flüsse hinauf, halten an vereinbarten Orten und fragen, ob alles in Ordnung sei. Dabei gehen sie im Normalfall nicht an Land. Es sei denn, es wird gewünscht.“ 

Bestimmte Indigene lehnen jeden Kontakt zur Außenwelt ab

Auf die Frage, was passieren würde, wenn abenteuerlustig veranlagte Reisende auf eigene Faust und ohne Vorankündigung die Aldeias (Indianerdörfer) erkunden wollen, meinte unser Guide mit einem Grinsen: „Das kann ich nicht empfehlen. Beim Betreten der Ansiedlung wird man dem ungebetenen Gast seine Besitztümer wegnehmen mit der Floskel: „Das ist aber hübsch und praktisch. Kann ich das haben?“ Ohne die Antwort abzuwarten, werden sie sich die Gegenstände aneignen, ohne sie wieder zurückzugeben. Damit wollen sie deutlich machen, daß der Besuch unerwünscht ist und sich schnellstmöglich wieder entfernen sollte.“

Im Laufe der Reise trafen wir auf einen kleinen Stamm, der aus meiner Sicht das richtige Gleichgewicht aus totaler Abschottung und Aufgabe der eigenen Kultur fand. Diese ca. 40 Leute hatten in Ufernähe eine Art Museumsdorf errichtet, in dem sie sich treffen, ihre Rituale pflegen und gelegentlich auch neugierige Touristen zu Besuch haben. Die meiste Zeit allerdings halten sie sich in den oben beschriebenen Dörfern auf, wie mir einer der Bewohner versicherte. Denn sich vollkommen vom Rest der Welt abzuschotten ist sicher auch nicht die ideale Lösung. Bemerkenswert war das Aussehen dieser Gruppe. Sie waren alle in etwa gleich groß, wobei man besser klein sagen sollte, und hatten dieselbe schokoladenfarbige Haut. Meiner Frau fiel auf, daß die Haut der Bewohner ohne Narben, Runzeln, Warzen oder andere Hautverunreinigungen war.

Weiter im Oberlauf des Rio Negro befindet sich eines der größten Systeme von Flußinseln weltweit mit dem Namen Anavilhanas. Bei Niedrigwasser kann man bis zu 400 Inseln unterscheiden. Viele dieser Inseln sind durch sogenannte Kanäle getrennt, die je nach Wasserstand in die eine oder andere Richtung fließen. Wir waren mit einem kleinen Motorboot unterwegs. Völlig unerwartet tauchten linker Hand aus dem Urwald herausragend die Ruinen eines Gebäudekomplexes auf. Die Szene erinnerte an einen Endzeitfilm. Unser Bootsführer erklärte: „Das sind die Ruinen eines Dschungelhotels mit dem Namen Ariaú Amazon Towers, das einmal als das beste und vornehmste seiner Art weltweit galt. Ich arbeitete dort fünf Jahre. Insgesamt waren wir über 200 Angestellte.“

 Dem Hollywood-Thriller „Anaconda“ mit Jennifer Lopez in der Hauptrolle diente das Hotel als Kulisse. Als der Besitzer und die treibende Kraft verstarb, kam es zu den üblichen Streitereien, viele Angestellte wurden nicht mehr bezahlt und plünderten das Anwesen. 2022 wurde gerichtlich die Insolvenz festgestellt. 

Krönender Abschluß war dann die Stelle, an der der Rio Negro und der Rio Solimões zusammenfließen und sich nach brasilianischem Verständnis zum Rio Amazonas vereinigen. Internationale Karten sehen das anders und bezeichnen den Solimões spätestens ab der peruanischen Grenze als Amazonas. In jedem Fall ist es ein spektakulärer Anblick, wenn man sieht, wie die hellbeigen Wasser des Solimões und die schwarzbraunen des Rio Negro über fast 30 Kilometer nebeneinander her fließen, bevor sie sich endgültig vermischen.