Wer ist „Deutscher“, beziehungsweise wer soll es rechtlich sein oder werden? Diese Frage spielte – in jahrhundertelanger Ermangelung eines Nationalstaates – juristisch keine Rolle. Nach dem Grundgesetz sind „Deutsche“ nicht notwendig – und nicht ausschließlich Personen, die rein rechtlich deutsche Staatsbürger sind. Es unterscheidet vielmehr zwischen Deutschen qua Staatsangehörigkeit und Deutschen qua „Volkszugehörigkeit“, was sich in Sprache, Kultur und Abstammung äußert. Nur deswegen werden etwa „Rußlanddeutsche“ privilegiert eingebürgert. Deutschland war selbstverständlich jahrhundertelang eine „Kulturnation“.
Wobei der Begriff der Kulturnation nie ein Gegensatz zur „Abstammungsgemeinschaft“ war. Erst im 19. Jahrhundert begannen deutsche Territorialstaaten im Zuge der damaligen Rezeption des französischen Verwaltungsrechts, ein Staatsangehörigkeitsrecht einzuführen. Die Paulskirchenverfassung sah die Schaffung einer einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit vor. Die Gründung des Deutschen Reiches brachte diese immer noch nicht hervor, die „Bundeszugehörigkeit“ wurde nach wie vor durch die Zugehörigkeit zu einem der Gliedstaaten vermittelt. Allerdings wurde eine reichsweite Vereinheitlichung des Erwerbs der Gliedstaaten- und mithin der Bundeszugehörigkeit durchgesetzt: Deutscher wurde man seither entweder durch Abstammung oder durch Einbürgerung.
Erst 1913 trat das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz in Kraft, das aber zunächst an der Vermittlung der Reichsstaatsbürgerschaft durch Länderstaatsbürgerschaft festhielt. „Reichsunmittelbare“ Staatsbürger gab es vorerst nur in Einzelfällen. Erst seit 1934 gibt es eine einheitliche Staatsbürgerschaft.
Das Reichs- und Staatsgehörigkeitsgesetz basierte auf zwei Prinzipien: Staatsangehörigkeit erwirbt man durch Abstammung („ius sanguinis“). Einbürgerung ist möglich, bleibt aber Ermessen der Behörden. Außer bei weiblichen Ehepartnern, diese erwarben bis in die 1950er Jahre hinein automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit und bis 1970 durch Erklärung. Bei Änderungen des Gesetzes bis 2000 ging es zumeist um die Gleichbehandlung der Geschlechter; ursprünglich wurde die deutsche Staatsangehörigkeit nur durch den Vater vermittelt, nur bei unehelichen Kindern durch die Mutter (und so auch bei ehelichen Kindern, die ansonsten staatenlos wären). 1975 wurde das angeglichen.
Seit den 1990er Jahren hat man begonnen, den Deutschen einzureden, ihr Abstammungsrecht sei ein weltweiter Sonderweg, es sei irgendwie auf die Nationalsozialisten zurückzuführen und behindere die Integration. Aber das ist Unsinn. In jedem Land der Welt gilt das Abstammungsprinzip als Grundsatz: Geht ein amerikanisches Ehepaar für ein Jahr auf die Philippinen und kommt mit Nachwuchs zurück, so wird ihr Baby keineswegs von den US-Einwanderungsbehörden als Philippino betrachtet und zurückgewiesen. Das „ius soli“, also die Staatsangehörigkeit qua Geburt im Land, kann das Abstammungsprinzip aus verschiedenen Gründen ergänzen. Napoleon hat es in Frankreich eingeführt, weil immer mehr Franzosen der Teilnahme an seinen Eroberungskriegen durch den Hinweis zu entrinnen suchten, erst ihre Großeltern seien als Arbeitsmigranten aus dem Italienischen heraufgekommen. Erst seither galt: Franzose ist, wer in Frankreich geboren wurde.
In den USA hingegen wurde das „ius soli“ eingeführt, um ein möglichst großes Staatsvolk im Lande herzustellen. Es verstand sich aber vor dem Hintergrund strenger und ethnisch bezogener Einwanderungsvorschriften: Eigentlich sollte sich das neue Staatsvolk zu gleichen Teilen aus Deutschen und aus Engländern zusammensetzen, bereits nichtgermanischen Englischsprechern (Iren und Schotten) mißtraute man, Südeuropäern noch mehr. Den Zuzug von Slawen wollte man streng begrenzen und den von Asiaten möglichst unterbinden. Ob es also um Eroberungskriege oder rassische Kriterien im Staatsbürgerschaftsrecht geht: so besonders sind die vermeintlichen deutschen Sonderwege nie gewesen.
Die rot-grüne Bundesregierung initiierte in Gestalt des Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15. Juli 1999 mit Bundestagsbeschluß vom 7. Mai desselben Jahres eine grundlegende Änderung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes, das konsequent zum 1. Januar 2000 in „Staatsangehörigkeitsgesetz“ umbenannt wurde. Dabei wurden zunächst Regelungen aus dem Ausländergesetz, die bereits seit 1990 die Einbürgerung jugendlicher Ausländer hatten erleichtern sollen, in das Staatsgenhörigkeitsgesetz integriert und dann alsbald auch auf Erwachsene ausgedehnt. Hinzu kam das „Optionsverfahren“, nach dem in Deutschland geborene Kinder von Ausländern die deutsche Staatsbürgerschaft durch Geburt zusätzlich erwerben und sich nach der Volljährigkeit für eine der beiden Staatsbürgerschaften entscheiden sollten. Die Optionspflicht wurde dann allerdings bald durchlöchert und für in Deutschland aufgewachsene Personen ganz abgeschafft. Speziell bei Türken, der wohl zahlenmäßig größten betroffenen Personengruppe, erwies sich der deutsche, völkerrechtlich grundierte Vorbehalt gegen Doppelstaatler („man kann nicht zwei Herren dienen“) als Kampf gegen Windmühlen, da die Türkei ihre Staatsbürger zwecks Einbürgerung in Deutschland zwar gern aus der Staatsbürgerschaft entließ, jedoch danach auch wieder einbürgerte.
Im Einbürgerungsrecht wurde von der Ermessens- auf die gerichtlich einklagbare Anspruchseinbürgerung (die es in „echten“ Einwanderungsländern niemals gibt, da diese sich ihre Einwanderer selbst aussuchen wollen) umgestellt und die Kriterien, so etwa Berufsausbildung und Sprachkenntnisse, in mehreren Stufen systematisch aufgeweicht. Vorläufiger Höhepunkt ist das Gesetz zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts, das am 27. Juni 2024 in Kraft treten wird.
Nach der offiziellen Begründung verfolgt es das Ziel, „im internationalen Wettbewerb um hochqualifizierte Arbeitskräfte eine dauerhafte Bleibeper-spektive“ zu schaffen. Es ziele aber zugleich „auch“ auf Menschen, „die bereits seit vielen Jahren in Deutschland leben und nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen“. Im Klartext: die im Zuge der großen Grenzöffnung von 2015/16 millionenfach zu uns gekommenen Asylbewerber sollen naturalisiert werden, um aufenthaltsbeendigende Maßnahmen auch unter veränderten politischen Mehrheiten verfassungsrechtlich auszuschließen. Weiterhin wird durch das Gesetz künftig Mehrstaatigkeit generell hingenommen, wodurch sich alle bisherigen Optionsregeln erübrigen.