Gerade war Mainz mit einem Fall in den Schlagzeilen, einige Wochen zuvor Kiel. Jüngst betroffen auch der Berliner Stadtteil Schmargendorf, genauso wie die Stadt Oranienburg in Brandenburg oder zweimal im vergangenen Jahr das niedersächsische Göttingen. Und egal ob Ost oder West, Norden, Süden, Klein- oder Großstadt: Stets gleichen sich die Meldungen fast aufs Wort: „Fliegerbombe gefunden … Anwohner müssen während der Entschärfung evakuiert werden … es kommt zu Sperrungen, Umleitungen …“
Auch 79 Jahre nach seinem Ende holen die Folgen des Zweiten Weltkriegs die Deutschen immer wieder im Alltag ein. Dabei sind die explosiven Hinterlassenschaften eine besondere Herausforderung. So liegen im Boden Schätzungen zufolge noch zwischen 100.000 und 300.000 Tonnen Blindgänger. Das bezieht sich wohlbemerkt auf das Festland. Hinzu kommen noch laut Angaben de Umweltbundesamtes rund 1,6 Millionen Tonnen konventioneller Munition und 5.000 Tonnen chemischer Kampfstoffe, die sich als Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee befinden.
Nach wie vor werden pro Jahr in Deutschland etwa 5.000 Bomben geräumt. So wie am Freitag vergangener Woche in der Nähe der Mainzer Universität. Dort hatten gegen Mittag die Männer vom Kampfmittelräumdienst die zwei Zünder der amerikanischen 500-Kilo-Weltkriegsbombe erfolgreich entschärft. 3.500 Menschen mußten den Gefahrenbereich für mehrere Stunden verlassen. Damit war der Aufwand für Polizei, Feuerwehr und Hilfsdienste nicht allzu hoch.
Länder müssen Millionen für Bombenräumung ausgeben
Um das Wirtschaftsleben möglichst wenig zu beeinträchtigen, finden größere Bombenräumungen in der Regel an einem Sonntag statt – sofern es die Sicherheitslage zuläßt. Ärgerlich ist für die Spezialisten, wenn einzelne Personen sich nicht an die Auflagen halten. So mußten vergangenes Jahr in Braunschweig die Sprengmeister ihre Arbeiten mehrfach unterbrechen. Aufwendiger ging es auch in Göttingen im Frühjahr und Herbst 2023 zu. Dort befanden sich mehrere Hauptverkehrsstraßen und der Bahnhof in der Gefahrenzone, so daß sogar der Fernverkehr der Bahn umgeleitet werden mußte – mit entsprechenden Folgen für die Reisenden.
Der Räumung militärischer Altlasten liegt in der Regel ein dreistufiges Phasenmodell zugrunde. Als Phase A bezeichnet man die sogenannte „beprobungslose Kampfmittel- und Altlastenvorerkundung“. Dafür werden vor allem alliierte Luftbilder sowie schriftliche und mündliche historische Quellen aus nationalen wie internationalen Archiven zu Kampfhandlungen und Luftangriffen ausgewertet. So entsteht ein erstes Gesamtbild über die mögliche Kampfmittelbelastung eines Geländes. Phase B beinhaltet dann die technische Erkundung und Sondierung des betroffenen Gebiets. Dabei wird durch unterschiedliche Verfahren überprüft, ob Verzerrungen im elektromagnetischen Feld auf magnetische Objekte im Boden schließen lassen. Bestätigt sich dadurch der Verdacht, wird in Phase C ein Konzept für die Räumung erstellt und mit der Beseitigung der Kampfmittel begonnen.
Um sämtliche verborgenen Altlasten zu finden, müßte man das ganze Land auf diese Weise untersuchen und dann mehrere Meter tief umgraben. Nach dem Krieg wurde das unterlassen, nicht zuletzt weil der Wiederaufbau im Vordergrund stand. Erschwerend kommt hinzu, daß es im föderal strukturierten Deutschland keine Behörde gibt, die eine Übersicht darüber hat, wo noch Munition liegen könnte. Kampfmittelbeseitigung ist Ländersache.
Ohnehin ist das Land in unterschiedlichem Ausmaß betroffen. Während des Zweiten Weltkriegs wurde eine Bombenlast von geschätzt 1,35 bis zwei Millionen Tonnen über dem Deutschen Reich abgeworfen. Je nach Typ variiert die Rate der Blindgänger. Schätzungen gehen von einer Größenordnung zwischen fünf und 20 Prozent aus, genaue Zahlen gibt es nicht. Viel ging auf die Hauptstadt Berlin nieder, rund 48 Prozent aller Luftangriffe der Alliierten trafen die Industrieregionen an Rhein und Ruhr. 2022 wurden in Nordrhein-Westfalen insgesamt 1.443 Bomben gefunden. Rund 21 Millionen Euro wendete das Land in dem Jahr für die Beseitigung von Kampfmitteln auf. Die Nettoexplosivstoffmasse, die sich in den gefundenen Kampfmitteln 2022 befand betrug über 33.376 Kilogramm. Einer der Schwerpunkte lag in Köln.
Berlin muß jährlich Kosten in Höhe von 1,9 Millionen Euro für die Bergung von Kampfmitteln allein auf landeseigenen Flächen aufwenden. Kleinere Bundesländer wie etwa Thüringen kostet die Räumung pro Jahr zwischen 630.000 und 860.000 Euro. Bayern mußte 2020 rund 1,2 Millionen Euro für die Beseitigung von Blindgängern bezahlen, Hamburg im Jahr zuvor 1,7 Millionen. In der vor allem bei einem Großangriff 1943 schwer getroffenen Hansestadt befanden sich 2015 noch schätzungsweise 3.000 Blindgänger im Erdreich.
Elf Kampfmittelräumer sind im Dienst gestorben
Um eine Vorstellung vom Ausmaß zu bekommen, eignet sich auch das Beispiel Oranienburg. Allein am 15. März 1945 warf die amerikanische Luftwaffe beim schwersten Angriff 5.690 Großbomben auf die Kleinstadt nördlich von Berlin. Noch heute lauern Schätzungen zufolge im Stadtgebiet über 200 Blindgänger unter den Straßen und Häusern der rund 40.000 Einwohner. Oranienburg bombenfrei zu machen, dürfte noch Generationen dauern.
Daß das Ganze alles andere als ungefährlich ist, zeigen die Fälle von sogenannten Selbstdetonationen. Alterung und Witterungsumstände können dazu führen, daß Blindgänger auch nach Jahrzehnten in die Luft fliegen können. So wurden im Juni 2019 die Anwohner im hessischen Limburg durch ein vermeintliches Erdbeben aus dem Schlaf gerissen. Später stelle sich heraus, daß auf einem Acker eine 250-Kilogramm-Bombe explodiert war, die einen vier Meter tiefen und zehn Meter breiten Krater hinterließ. Glück im Unglück, daß es ein unbewohntes Gebiet in der Nacht betraf.
Denn nach wie vor werden manche Blindgänger auch erst während Bauarbeiten durch Zufall entdeckt. Dabei kann es immer wieder zu schweren, gar tödlichen Unfällen kommen. 1994 detonierte in Berlin eine Fliegerbombe in einer Baugrube. Drei Arbeiter wurden getötet, acht Menschen zum Teil schwer verletzt. Und 2006 kam ein Bauarbeiter durch einen Blindgänger auf der Autobahn A 3 in der Nähe von Aschaffenburg ums Leben. Im deutschsprachigen Raum gab es von 1945 bis 2015 mindestens 1.200 Unfälle mit Blindgängern. Wie gefährlich die Hinterlassenschaften des Weltkriegs im Boden sind, zeigt eine weitere traurige Zahl: Zwischen 2000 und 2015 starben elf Kampfmittelräumer in Ausübung ihres Dienstes.
In Mainz ist vergangene Woche zum Glück alles gutgegangen. Der von den Fachleuten erfolgreich entschärfte Blindgänger soll demnächst ins niedersächsische Munster transportiert werden, wo er in einem speziellen Bunker zunächst in Scheiben geschnitten wird, bevor man den Sprengstoff in einem Hochofen kontrolliert verbrennt.
Eine gefährliche Altlast weniger. Doch eines ist sicher: Nach der Bombenräumung ist vor der Bombenräumung.
Foto: Sprengmeister der rheinland-pfälzischen Polizei mit einer entschärften amerikanischen 500-Kilo-Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg: Bis zu 300.000 Tonnen solcher Blindgänger und Munitionsreste sollen sich hierzulande noch in der Erde befinden