© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/24 / 10. Mai 2024

Ist ein Ende möglich?
Ukraine-Krieg: Derzeit ist die Lage festgefahren, doch immer wieder fällt das Wort Friede
Marc Zoellner

Ist ein Frieden in der Ukraine möglich? Mit dieser Frage beschäftigt sich demnächst eine hochkarätig besetzte Konferenz im idyllisch gelegenen „Bürgenstock Resort“ im Kanton Nidwalden, rund achtzig Kilometer östlich des Schweizer Bundessitzes Bern gelegen. Für die Tagung, die am 15. und 16. Juni stattfinden soll, hat die Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd rund hundert Staaten samt ihrer Vertreter eingeladen; darunter neben westlichen, die Ukraine aktiv unterstützenden Nationen auch ambivalente Regionalmächte wie China und Indien. Allein auf die Teilnahme Rußlands müssen die Schweizer Gastgeber wohl verzichten.

„Rußland wird nicht daran teilnehmen, auch wenn es eine Einladung erhält, die wir nicht bekommen haben“, erklärte die Russische Botschaft im Bern. Begründet wurde die Ablehnung mit der mangelnden Neutralität der Schweiz im Ukrainekonflikt, der fehlenden Beachtung russischer Sicherheitsinteressen in Osteuropa sowie der Kompromißlosigkeit westlicher Staaten gegenüber alternativen Friedensvorschlägen beispielsweise aus China. Bereits im Vorfeld droht die Konferenz damit zu scheitern. Für die Schweizer bleibt deren Ausrichtung trotzdem alternativlos. „Die Alternative wäre, nichts zu tun, und das wäre unverantwortlich für die Stabilität Europas und auch der Schweiz“, erklärte Amherd Mitte April auf einer Pressekonferenz. Überdies würden die Teilnehmer „auf dieser Konferenz keinen Friedensplan unterzeichnen. Wir glauben, daß es eine zweite Konferenz geben wird, aber wir wollen den Prozeß mit dieser beginnen.“

Doch wie könnte ein stabiler Frieden für Rußland und die Ukraine überhaupt aussehen? Die JUNGE FREIHEIT stellt drei mögliche – und höchst spekulative – Szenarien vor. Zu beachten ist hierbei eine schwierige, jedoch unumstößliche Prämisse: Beide Kriegsparteien wollen nicht nur, sie müssen förmlich bei einem Friedensschluß ihr Gesicht wahren, um insbesondere innenpolitischen Dominoeffeken vorzubeugen.




1. Szenario 

Moskaus scheinbare Macht

Seit Beginn des Kriegs am 24. Februar 2022 waren russische Offizielle stets darauf bedacht, ihre Kriegsziele so vage wie möglich zu formulieren. Diese Exit-Strategie hat System und ermöglicht es Moskau, in sämtlichen Szenarien besonders der eigenen russischen Öffentlichkeit verkaufen zu können, die blutigen Opfer hätten sich ausgezahlt. Für den Kreml ist diese Stratege von besonderer Wichtigkeit. Sie dient dem Machterhalt des inneren Zirkels bei jedwedem Kriegsausgang. Lediglich zwei Ziele gelten als Staatsräson: die Ukraine um jeden Preis aus der Nato zu halten sowie die Regierung Selenskyj in Kiew zu entmachten.

Die Rolle des Hardliners, der gern vorgeschoben wird, um die russischen Maximalforderungen zu präsentieren, hat derzeit Dmitri Medwedew inne. Bis 2020 hatte Medwedew als Ministerpräsident der Russischen Föderation amtiert und galt seinerzeit als gemäßigt, radikalisierte sich jedoch im Zuge des Krieges vor allem auf seinem Telegram-Kanal. Dort postete er zuletzt Mitte März seine „weiche russische Friedensformel“: Die gesamte Ukraine müsse Teil der Föderation werden und Reparationen an Rußland zahlen. Nur drei Tage später beschwichtigte Rußlands Präsident Wladimir Putin und sprach lediglich noch davon, Rußland sei „gezwungen, eine Sicherheitszone auf den Gebieten zu errichten, die von der ukrainischen Regierung kontrolliert werden“. Die nebulöse Grundhaltung des Kreml spiegelt sich auch in dessen Verhandlungsmuster wider. „Zu den Kapitulationsbedingungen, die derzeit von russischen Vermittlern vorgeschlagen werden“, faßte im Februar die britische Denkfabrik „Royal United Services Institute“ (RUSI) zusammen, „gehört die Abtretung des bereits unter russischer Kontrolle stehenden Territoriums durch die Ukraine zusammen mit Charkiw und in einigen Versionen Odessa.“ Letzteres würde Rußland Zugriff auf Transnistrien bieten, den russischsprachigen Teil der Republik Moldau.

Die Einlösung der Maximalforderung – selbst unter der Prämisse einer Restukraine als Binnenstaat – halten viele Experten militärisch für unwahrscheinlich zu erreichen. Zwar könnte Rußland in diesem Jahr noch bedeutende Geländegewinne erzielen, prognostiziert RUSI in seiner Studie. Doch spätestens 2026 seien die russischen Munitions- und Fahrzeugvorräte am Limit und einer stabilen Versorgung der Ukraine durch westliche Rüstungsgüter nicht mehr gewachsen. Gleichwohl bliebe schon aus Verfassungsgründen die russische Forderung nach Angliederung der vier Bezirke (Oblasten) Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja bestehen. Die Referenden vom September 2022 zur Angliederung dieser an die Russische Föderation, wie immer diese auch demokratisch zu bewerten seien, haben für Moskau Verfassungsrang. Für eine Rückübertragung sieht der Kreml keinen rechtlichen Rahmen ohne Verfassungsänderung. Allerdings zählen zu diesen Oblasten auch eine noch nicht eroberte (Saporischschja) sowie eine bereits schon wieder befreite Hauptstadt (Cherson). Für die Ukraine käme ein solcher Friedensvertrag einer Kapitulation gleich.




2. Szenario

Chinas Interessen 

Als enge strategische Partnerschaft, die kaum ein Blatt Papier trennen kann, werden die bilateralen Beziehungen zwischen Rußland und China gern beschrieben. Zumindest von seiten Moskaus aus, wie zuletzt der Besuch des russischen Außenministers Sergei Lawrow Anfang April in Peking verdeutlichen sollte. Allein in China betrachten Offizielle diese Partnerschaft mittlerweile ambivalenter. „Chinas Haltung gegenüber Rußland ist von der ‘Keine Grenzen’-Haltung Anfang 2022, vor dem Krieg, zu den traditionellen Prinzipien der ‘Blockfreiheit, Nichtkonfrontation und des Nicht-Angriffs auf Dritte’ zurückgekehrt“, schrieb Feng Yujun, Professor für internationale Studien an der Universität von Peking Mitte April in einem Leitartikel für die britische Wochenzeitschrift The Economist.

So habe auch China bereits begriffen, daß eine „letztendliche Niederlage Rußlands unvermeidlich“ sei, so Feng. Gleich vier Faktoren würden diese Niederlage bedingen: der „außergewöhnliche“ Widerstand der Ukrainer; die anhaltende internationale Unterstützung des Landes; die „Natur der modernen Kriegführung“, welcher Rußland seit seiner „Deindustrialisierung“ in den 1990ern nicht mehr gewachsen sei; ebenso die Informationsblase des Kreml: „Der russische Präsident und sein nationales Sicherheitsteam haben keinen Zugang zu genauen Geheimdienstinformationen. Dem von ihnen betriebenen System fehlt ein effizienter Mechanismus zur Fehlerkorrektur“, erklärte Feng.

Bereits im Februar 2023 hatte China einen eigenen Friedensvorschlag vorgestellt. Zu Rußlands Erschrecken sah dieser als einen der wichtigsten Eckpunkte eine Garantie der territorialen Integrität der Ukraine vor. Dazu gehören nicht nur die Wiederangliederungen der Oblasten Donezk und Luhansk an die Ukraine. Auch Rußlands Annexion der Krim wurde von Peking nie anerkannt. Militärisch ist eine komplette Befreiung der Ukraine höchst fragwürdig. Insbesondere die westlichen Verbündeten bestehen jedoch auf diesem Szenario: Eine Annexion des kriegerisch besetzten Landes verstößt immerhin nicht nur gegen das Völkerrecht – sie könnte auch einen Präzedenzfall für weitere Konflikte in anderen Regionen schaffen. Die innenpolitischen Konsequenzen der Niederlage für Rußland wären hingegen nicht abschätzbar. Sie reichen je nach Expertenstandpunkt vom forcierten Regierungswechsel über eine Militärdiktatur der jetzigen Machthaber bis hin zum Zerfall der Russischen Föderation. 




3. Szenario

Verhinderter Friedensplan

Das wahrscheinlichste der drei Szenarien ist das Einfrieren der derzeitigen Kriegshandlungen in einen – wenn auch brüchigen – Waffenstillstand. Von russischer Seite aus war der Angriffskrieg im Februar 2022 auf nur wenige Tage geplant. Die russische Großoffensive auf Kiew scheiterte jedoch, die russischen Truppen wurden in der Folge in den Süden und Osten der Ukraine zurückgedrängt. Faktisch herrscht Moskau derzeit nur über die Autonome Republik Krim (seit 2014) sowie über die Oblasten Luhansk und Donezk; die Oblasten Cherson und Saporischschja sind nur teilweise in russischer Gewalt. Ein blutiger Stellungskrieg bindet die Kräfte beider Parteien, die sich als ähnlich schlagkräftig erwiesen haben.

Tatsächlich hatte Rußland seinem ukrainischen Kontrahenten bereits am 15. April 2022, knapp drei Wochen nach Kriegsbeginn, einen ähnlichen Friedensplan vorgelegt, wie jüngst veröffentliche Dokumente bezeugen. Der ganze 17 Seiten umfassende Plan las sich für den damaligen Zeitpunkt zumindest auf den ersten Blick durchaus diskutabel: So wollte Rußland sich aus allen besetzten Gebieten zurückziehen; mit Ausnahme der Krim, deren Status 15 Jahre später behandelt gehörte, sowie einigen namentlich nicht genannten Oblasten im Osten der Ukraine. Letztere sollte im Gegenzug massiv abrüsten, ihre Armee von derzeit rund einer Million auf 90.000 Soldaten beschränken, nur noch über wenige Panzer und Geschütze sowie Raketensysteme mit maximaler Reichweite von 40 Kilometern verfügen und vor allem nicht der Nato beitreten – der EU hingegen schon. Laut Dawid Arachamija, Vorsitzender der ukrainischen Regierungspartei, habe Moskau Kiew Frieden versprochen, wenn es sich weigere, der Nato beizutreten, aber die Ukrainer hätten ihnen nicht geglaubt.

Mit Frankreich, Großbritannien, den USA, China und Rußland sollten gleich fünf Garantiestaaten für die künftige Unverletzbarkeit der Ukraine sorgen – jedoch sämtliche, und hier ist der Haken des Dokuments, mit Vetorecht ausgestattet. Was prinzipiell bedeutet: Hätte Rußland die Ukraine erneut angegriffen, hätte Rußland auch einen erneuten westlichen Beistand für die Ukraine mit Veto blockieren können. Nicht nur für Kiew war diese Klausel inakzeptabel. Insbesondere Großbritanniens damaliger Premierminister Boris Johnson sprach sich nach dem Bekanntwerden des russischen Massakers im ukrainischen Butscha am 9. April 2022 gegen einen gemeinsamen Vertragsabschluß mit Moskau aus und drang stattdessen auf Fortführung der Kämpfe und versprach umfangreiche Waffenlieferungen.

Rußlands Präsident Putin und Kremlsprecher Pes-kow brachten das Papier diesen April erneut als Diskussionsgrundlage ins Gespräch. Allerdings sollten diese Gespräche die „neue Realität“ anerkennen, die derzeitigen russischen Eroberungen also faktisch anerkennen. Nach der Annexion der Krim 2014 fürchtet die Ukraine zu Recht, daß sämtliche territorialen Zugeständnisse nur weitere Eroberungsgelüste Moskaus nähren könnten.