Längst gilt Sir Keir Starmer als Großbritanniens nächster Premierminister: Mit mehr als 400 von 650 Sitzen trauen alle Umfrageinstitute seiner Labour Party bei der Unterhauswahl am 4. Juli Mehrheiten zu, wie es sie für die Partei seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat. Und das, obwohl der südenglische Sozialdemokrat keinerlei Charisma zu besitzen scheint. „Ist Starmer zu langweilig für die Macht?“, fragte etwa die Zeitschrift The Week mit Berufung auf parteiinterne Quellen. Doch der 61jährige weiß besser als seine Gegner, worauf es in der Politik ankommt.
Seine Stellung hat er seiner Ausdauer und harter Arbeit zu verdanken. Sie ermöglichten dem Sohn einer Krankenschwester und eines Werkzeugmachers, als Stipendiat ein Gymnasium in Surrey abzuschließen und Rechtswissenschaften in Oxford zu studieren. „Egal, was zuvor geschah, Keir stand um sechs Uhr auf, um weiterzulernen“, erinnerte sich ein Ex-Kommilitone.
Dies ebnete Starmer den Karriereweg als renommierter Bürgerrechtsanwalt. 2005 erzwang er etwa vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Entschädigungen für zwei Greenpeace-Mitglieder, denen britische Behörden im Rechtsstreit mit McDonalds Rechtshilfe verweigert hatten. 2008 wechselte er die Seiten und profilierte sich fünf Jahre lang als oberster Strafverfolger von England und Wales. 2014 verlieh ihm Königin Elisabeth II. die Ritterwürde. „Ich war immer sehr ergebnisorientiert“, stellte er jüngst in einem Interview fest. Was ihn schließlich zur Politik brachte.
„Wo nötig, schöpft Starmer erst die gängigen Optionen aus – um dann radikaler zu agieren“, so ein Ex-Berater.
2015 zog er ins Unterhaus ein. Schnell geriet er mit dem damaligen Labour-Chef Jeremy Corbyn in Konflikt. Beide entstammen der marxistischen Linken der achtziger Jahre. Doch während Corbyn an seinen Überzeugungen festhielt und den Mitte-Links-Kurs beenden wollte, entwickelte sich Starmer zum Pragmatiker. Früh geprägt vom Scheitern des Magazins Socialist Alternative, das er als Student mitredigierte, schwor er radikaler Rhetorik ab. „Man kann das gleiche Ziel auf mehrere Weisen durchsetzen“, sagte er einst.
Den Erfolg seiner Strategie durfte Starmer unter Beweis stellen, als er ein Jahr nach der historischen Wahlniederlage von 2019 Parteichef wurde. So prangerte er die Fehler der seit 2010 regierenden Tories bei der inneren Sicherheit an. „Sie haben die Kontrolle über die Grenze verloren!“, schimpfte er während der Asylkrise am Ärmelkanal. Sein Rezept: mehr Polizei, Kampf gegen Visamißbrauch und geordnete Arbeitsmigration. Bereits als Staatsanwalt galt er als Mann von „Law and Order“. 2011 mußte er nach einem Polizeimord an einem Schwarzen in London Unruhen unter Kontrolle bringen. Er forderte monatelange Haftstrafen und ließ die Gerichte rund um die Uhr arbeiten.
Mit gleicher Verve und Zucht will er auch die Gesellschaft umwandeln: Minderheitenschutz- und „Haßrede“-Gesetze verschärfen, die politische Dezentralisierung des Landes vorantreiben, das adelsgeführte Oberhaus verschlanken, NGOs und externen Experten mehr Einfluß gewähren und zur Beschleunigung der Energiewende ein staatliches Großunternehmen aus dem Boden stampfen.
Doch wie umwirbt er dafür die gesellschaftliche Mitte? „Zuerst schöpft Starmer die gängigen Möglichkeiten aus, wo nötig, um dann schrittweise radikaler zu werden“, verriet ein ehemaliger Berater – kurz: Langweilen mit Methode.