© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/24 / 12. Juli 2024

„Die Radikalisierung nimmt zu“
Interview: Sein Kinderhilfswerk „Die Arche“ hat ihn bundesweit bekannt gemacht. Seit Jahren kämpft Pastor Bernd Siggelkow gegen Kinderarmut – und längst auch gegen einen sich immer stärker ausbreitenden Islamismus
Moritz Schwarz

Herr Siggelkow, „zuerst schneiden wir den Christen, dann euch Deutschen die Kehle durch“, das kriegen Arche-Mitarbeiter zu hören. Was kommt da auf uns zu? 

Bernd Siggelkow: Hätte man uns früher zugehört, wüßte man längst, was da im Anmarsch ist, denn das Problem ist nicht neu. 

Sondern es hat, sagen Sie, seit dem Hamas-Terrorangriff vom 7. Oktober nur noch einen Schub bekommen. 

Siggelkow: Richtig, so daß sich nun nicht mehr leugnen läßt, wovor wir schon lange warnen. 

Was Sie bislang mit welchem Ergebnis getan haben?

Siggelkow: Daß abgetan wurde, was wir sagen, Motto: alles nicht so schlimm. Tatsächlich aber merken wir, wie Fundamentalisten und Haßprediger erschreckenden Einfluß auf die Jugendlichen gewinnen. Sogar wir haben schon einen Jungen an den IS verloren, auch wenn das bereits Jahre her ist.

Wie verbreitet ist diese Radikalisierung? 

Siggelkow: In der Arche hält sich das zum Glück noch in Grenzen, da die Jugendlichen sich bei uns sehr wohl fühlen und weil sie kaum über ihre religiösen Empfindungen reden. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, welchen Einflüssen sie ausgesetzt sind und wie sie schlußendlich „ticken“. 

Der Leiter Ihres Hamburger Hauses hat berichtet, Jugendliche hätten ihm erklärt, „der beste Politiker, den ihr Deutschen je hattet, war Adolf Hitler“.

Siggelkow: Ja, es gibt längst ein großes Antisemitismusproblem. Was aber bei weitem nicht heißt, daß jedes moslemische Kind Teil dessen ist. Viele leiden auch darunter, daß ihre Herkunft in den Medien ständig problematisiert wird. So fürchteten einige Kinder, sie dürften nun vielleicht nicht mehr in die Arche kommen, weil sie Muslime sind.  

Inzwischen sind je nach Arche-Standort fünfzig bis neunzig Prozent Ihrer Kinder und Jugendlichen Moslems. Wann ist das Problem für Sie spürbar geworden und welches Ausmaß hat es mittlerweile?

Siggelkow: Wir haben das schon bemerkt, bevor ab 2015 in großer Zahl Flüchtlinge kamen. Ob mittlerweile dreißig oder gar fünfzig Prozent der Kinder davon erfaßt sind, kann ich nicht beurteilen.

Was sind die Ursachen?

Siggelkow: Ein Großteil ihrer Familien lebt in bestimmten Stadtteilen, also quasi isoliert in Wohn-„Ghettos“. Folglich besteht kein Anlaß und auch kaum Gelegenheit, seinen Horizont zu erweitern. Hinzu kommen die sozialen Medien, durch die Haßprediger selbst auf Kinder aus liberalen moslemischen Familien Einfluß nehmen. Vor allem wenn Kinder ins Alter der Identitätsfindung kommen, suchen sie Antworten, und man kann sie – erst recht in Zeiten, in denen alles teurer, unsicherer und schwieriger wird – leicht beeinflussen und ihnen das Gefühl vermitteln, alle anderen seien sowieso gegen sie. Die Jugendlichen sagen uns etwa: „Wir glauben euren Nachrichten nicht. Wir glauben das, was auf Tiktok gesagt wird!“ Daß sie dort manipuliert werden, nehmen sie gar nicht wahr. Für sie sind die dortigen Influencer Menschen ihrer Kultur und ihrer Religion – was ich natürlich auch verstehen kann. Hinzu kommen mitunter Eltern, die ihnen beibringen, Deutsche und Juden, das sind Feinde! Es ist nahezu unvermeidlich, daß sich dann bei den Kindern auch Feindbilder festsetzen. 

Was ist dagegen zu tun?

Siggelkow: Vor allem, die Gefahr nicht zu ignorieren und die Kinder nicht aufzugeben! Ich frage mich, was sich Leute denken, die kritisieren: „Wenn ihr solche Jugendlichen habt, dann werft sie doch raus!“ Und dann? Dann sitzen sie nur noch in ihren Ghettos und hören gar nichts anderes mehr als Parolen gegen Juden und Ungläubige. Und auch wenn wir in der Arche natürlich verlangen, daß bestimmte Regeln eingehalten werden, bleibt uns doch gar nichts anderes übrig, als zu versuchen, die Jugendlichen irgendwie zu erreichen und ihren Horizont zu erweitern: indem wir ihnen zeigen, daß es auch andere Wertvorstellungen gibt, etwa die von uns Christen, und daß auch in anderen Menschen ein Herz klopft. Und dennoch muß ich sagen, daß die Radikalisierung leider zunimmt. 

Warum wurden Ihre Warnungen so lange überhört? 

Siggelkow: Weil man es lieber gar nicht wissen wollte. Denn es ist natürlich unbequem, wenn eine Einrichtung wie unsere Alarm schlägt. Aus der Politik wurde uns auch schon signalisiert: Wenn ihr in den Medien die Klappe haltet, gibt es Fördergeld.

Und?

Siggelkow: Wie Sie sehen, halten wir nicht die Klappe. Die Arche wird auch nicht mit öffentlichen Geldern finanziert, sondern von Spenden getragen.

Liest man Ihr neues Buch „Das Verbrechen an unseren Kindern“, dann kämpfen Sie offenbar gegen drei Gefahren, an die Sie diese zu verlieren drohen: Extremismus, Kriminalität und Selbstaufgabe – vom Leben in Dauerarbeitslosigkeit bis hin zu Depressionen und Drogen. Welche der drei ist für Sie das Hauptproblem?

Siggelkow: Keines, sondern das Hauptproblem ist das Vakuum, das entsteht, weil wir zu wenig Menschen im System haben, die Kinder fördern, formen, unterstützen und ihnen Vorbild sind. Viele Arche-Kinder zeigen unglaubliche Potentiale, die aber weder Lehrer noch Eltern erkannt haben. 

Was sind die Folgen? 

Siggelkow: Die zeigen sich etwa in der neuen Kriminalstatistik, laut der die Gewalt bei Jugendlichen zunimmt. Und das nicht nur wegen der Einwanderung oder der für Kinder schwierigen Corona-Zeit, sondern vor allem wegen fehlender Perspektiven. Was dazu führt, daß sich das Vakuum aufbläht, und dann brauchen die Kinder ein Ventil – und das ist die Gewalt oder auch der Extremismus. 

Ihr Co-Autor Wolfgang Büscher berichtet: „Als der Chef eines arabischen Clans in Berlin Geburtstag feierte, lud er die Jugendlichen ein, Döner und Getränke gratis. An diesem Tag blieb der Jugendbereich der Arche leer. Und auf der Feier sagte man ihnen: ‘Wenn ihr von der Gesellschaft vergessen werdet, wir nehmen euch auf.’“

Siggelkow: Wenn wir das Vakuum nicht füllen, dann tun es eben andere. Und deshalb ist es so wichtig, zu verstehen, daß jedes Kind ein Geschenk ist! Gerade in unserer Gesellschaft, in der die Geburtenzahlen sinken und Kinder zum Armutsrisiko geworden sind. Daß wir endlich begreifen, daß Kinder nicht an den Rand, sondern in die Mitte der Gesellschaft gehören! Ein afrikanisches Sprichwort sagt sehr richtig: „Zur Erziehung eines Kindes braucht es ein ganzes Dorf.“ Wir brauchen also mehr als die Familie – wenn sie denn heute überhaupt noch funktioniert beziehungsweise wenn sie noch Vater und Mutter oder zumindest zwei Erziehende hat. Wie aber sieht es in der Realität aus? Es fehlen Schulen und Kitas, Einrichtungen zur Kinder- und Jugendförderung werden geschlossen, und die Kinderarmut steigt. Wir glauben, in Deutschland habe jeder die gleichen Chancen. Die Wahrheit aber ist, daß es im Schnitt vier Generationen braucht, um sozial eine Gehaltsstufe aufzusteigen! Die Leute sind erschrocken, wenn wir erzählen, daß die Kinder uns sagen, sie möchten später einmal Bürgergeldempfänger werden – aber sie haben damit mit achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit recht! Für die meisten kommt es tatsächlich so, weil es uns in Deutschland nicht gelingt, diese Spirale wirksam zu durchbrechen.

Warum nicht? 

Siggelkow: Das habe ich Ihnen schon gesagt: weil es uns an Menschen und Einrichtungen fehlt, die sich um die Kinder kümmern, die ihnen Zuwendung geben, sie fördern und ihnen Vorbild sind. Warum sagen denn viele unserer Kinder auf die Frage, was sie werden wollen, „Influencer“, „Arche-Mitarbeiter“ oder eben „Bürgergeldempfänger“? Weil das die Vorbilder sind, die sie kennen: Influencer aus dem Internet, uns Arche-Betreuer durch unsere Arbeit mit ihnen und Bürgergeldempfänger, weil Mama und Papa das sind. Und da die wenigsten Jugendlichen erfolgreiche Influencer werden und es bei der Arche nur eine begrenzte Stellenzahl gibt, bleibt den meisten nur das Schicksal ihrer Eltern, weil sie nicht die Anleitung und Förderung erfahren, um aus diesem Teufelskreis auszubrechen. 

Leistet eben das nicht die Arche?

Siggelkow: Wir betreuen in Deutschland an die 10.000 Kinder, die nach der Schule zu uns kommen, um zu spielen, zu lernen und zu erleben, daß sich jemand um sie kümmert. Aber von den etwa 14 Millionen Kindern in unserem Land sind über zwei Millionen armutsgefährdet! Und dazu kommen noch solche, die zwar materiell bestens versorgt sind und von ihren Eltern vom einen Verein zum nächsten kutschiert werden, die aber trotzdem zu Hause keinen Anker finden. Denken Sie etwa an unsere EU-Kommissionspräsidentin, die zwar sieben Kinder hat – die aber wahrscheinlich von ihr kaum etwas haben. Diese Wohlstandsverwahrlosung ist auch eine Form von Armut – was etwa die Antwort eines unserer Kinder auf den Punkt bringt, das auf die Frage „Ihr seid zu Hause doch arm?“ antwortete: „Wir sind nicht arm, wir haben nur kein Geld.“ Gleichwohl sind die meisten Kinder, die zu uns kommen solche, die sich den Sport- oder Musikverein nicht leisten können und oft auch zu Hause alleine gelassen sind. Ihnen wollen wir geben, was sie vermissen und was nötig ist, um sie stark und gesellschaftsfähig zu machen, ihnen Perspektiven und Chancen zu eröffnen. Zudem sehen wir uns als Fürsprecher der Kinder, die in Deutschland nämlich keine Lobby haben.

Angefangen hat alles 1995 in Berlin-Hellersdorf, weil sie mit ein paar Straßenkindern Fußball gespielt haben. 

Siggelkow: Ja, ich dachte, früher oder später werden ihre Eltern schon auftauchen, aber Fehlanzeige. Stattdessen klingelten weitere Kinder an unserer Wohnungstür und fragten: „Bist du Bernd? Wir haben gehört, die spielst mit uns Fußball“, weil sie niemanden hatten, der sich um sie kümmerte. Schließlich haben wir die ersten zwanzig Kinder in unserem Wohnzimmer betreut, mit ihnen gespielt, ihnen vorgelesen, zugehört und sie gefüttert, da wir merkten, daß manche zu Hause nicht einmal Frühstück oder Mittagessen bekamen. Einige fragten mich auch, ob ich nicht ihr Papa sein will. Weil es immer mehr wurden, mieteten wir einen Laden, dann einen Jugendclub, schließlich eine ganze Schule. Und da sich zeigte, daß es nicht nur ein Berliner Problem ist, gibt es heute 32 Arche-Häuser in ganz Deutschland und Ableger in der Schweiz und Polen.  

Sie sind selbst in Armut aufgewachsen, ohne Mutter, die die Familie verlassen hat, und ohne Liebe, mit einem Vater, von dem Sie keine Zuwendung erfuhren. Dennoch ist Ihnen der Aufstieg gelungen. Warum? 

Siggelkow: Als ich 15 war, sagte mir ein Jugendpastor, daß es jemanden gibt, der mich liebt: Gott. Ich wußte nicht, wer Gott ist und auch nicht, was Christ sein bedeutet, aber da wurde mir klar, daß es Liebe war, die mir fehlte. So ließ ich mich darauf ein und wurde in der Heilsarmee aktiv – wo ich erstmal lernen mußte, daß ein Christ niemanden verhaut, der ihm die Uniformkappe vom Kopf schnippst, denn so war ich in St. Pauli aufgewachsen.

„Morddrohungen, Brandstiftung und Lügen der Linken“

Anders als man glauben mag, haben Sie für Ihren Einsatz nicht nur Anerkennung erfahren, sondern auch Angriffe, Verleumdungen und Drohungen. Warum?

Siggelkow: Es ist eben nicht jeder begeistert, wenn ein Anti-Armuts-Projekt in die Nachbarschaft zieht. Alles mögliche wurde mir unterstellt, ich erhielt sogar anonyme Morddrohungen, und ein Gebäude, das wir mieten wollten, wurde angezündet. Vor allem aber ging das wohl auf die Lügen zurück, die die Politik, speziell die Berliner Linke über mich verbreitet hat. Wohl weil wir durch unsere Arbeit die Kinderarmut im von ihr regierten Bezirk aufgedeckt und angeprangert haben. 

Müßte nicht gerade die Linke Ihnen Kränze winden? 

Siggelkow: Das möchte man meinen, doch das Gegenteil ist der Fall. 

Mit der Politik scheinen Sie sowieso fertig zu sein: ob Olaf Scholz, Ricarda Lang oder Familienministerin Lisa Paus, alle haben sie die Arche besucht. Aber nicht, wie der Journalist Ralf Schuler im Interview mit Ihnen formulierte, „um sich ein Bild zu machen, sondern um ein Bild von sich machen zu lassen“, sprich Arche-Kinder als Staffage für Presse-Publicity.

Siggelkow: So ist es leider. Doch ist das noch nicht einmal das Schlimmste, sondern daß wir für Soziales und Kinder so viel Geld ausgeben, wie kaum ein anderes Land und die Kinderarmut dennoch wächst. Und warum? Weil es vielen Politikern egal ist, daß die Hilfe gar nicht bei Kindern und Eltern ankommt, die man ihrer Not überläßt. Ebenso wie sich die Politik damit schmückt, Flüchtlinge aus aller Welt einzuladen, diese dann aber nicht angemessen versorgt, weil es dafür gar keine Kapazitäten mehr gibt – geschweige denn, sich erstmal um die Not der eigenen Bevölkerung zu kümmern. Dabei ist es möglich, Kinderarmut effektiv zu bekämpfen, wie der Blick in andere Länder zeigt. Daß Politik und Gesellschaft das dennoch gleichgültig unterlassen, das ist das Verbrechen an unseren Kindern!



Bernd Siggelkow Der gelernte Kaufmann, Sozialarbeiter und Pastor, geboren 1965 in Hamburg, ist Gründer des christlichen Kinder- und Jugendwerks „Die Arche“ mit Sitz in Berlin. Gemeinsam mit seinem Co-Autor Wolfgang Büscher veröffentlichte er zahlreiche Bücher zu verschiedenen Aspekten der Kinder- und Jugendarmut, darunter „Deutschlands vergessene Kinder“ (2007), „Generation Wodka“ (2011), „Ausgeträumt. Die Lüge vom sozialen Staat“ (2013) oder „Kindheit am Rande der Verzweiflung. Die fatalen Folgen von Lockdown und Isolation“ (2021). Jüngst erschienen: „Das Verbrechen an unseren Kindern. Warum junge Menschen scheitern und was wir dagegen tun müssen“  www.kinderprojekt-arche.de