Als Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 als Reaktion auf den Angriff Rußlands auf die Ukraine die Zeitenwende in der deutschen Sicherheitspolitik ankündigte, war vermutlich den wenigsten bewußt, daß diese Ankündigung nicht nur Auswirkungen für die Bundeswehr haben würde.
Mittlerweile hat die Zeitenwende sogar schon die deutschen Universitäten erreicht. Denn an rund 70 deutschen Hochschulen wurde in den vergangenen Jahrzehnten eine sogenannte Zivilklausel durchgesetzt, die Forschung für militärische Zwecke und das Einwerben von Drittmitteln aus der Rüstungsindustrie für Forschungsprojekte untersagt. Den Anfang hatte 1986 die traditionell linke Universität Bremen gemacht.
Diese friedensbewegte Haltung, die vor allem nach Ende des Kalten Krieges an vielen Universitäten nicht zuletzt auch mit Unterstützung aus der Politik zum guten Ton gehörte, bekam spätestens nach der Annexion der Krim durch Rußland deutliche Risse. Bereits 2019 beschloß die damalige Koalition aus CDU und FDP im Landtag von Nordrhein-Westfalen, die Pflicht zur Zivilklausel an den Hochschulen des Landes abzuschaffen. Seitdem dürfen diese selbst entscheiden, ob sie die Klausel beibehalten oder aufheben wollen.
Unter dem Eindruck der Zeitenwende geht Bayern jetzt einen Schritt weiter. Die CSU-geführte Landesregierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die Universitäten des Freistaates auf eine Unterstützung der Streitkräfte verpflichtet werden. „Die Hochschulen sollen mit Einrichtungen der Bundeswehr zusammenarbeiten. Sie haben mit ihnen zusammenzuarbeiten, wenn [...] dies im Interesse der nationalen Sicherheit erforderlich ist“, heißt es in dem Gesetzentwurf der Staatsregierung. Es soll also künftig ein Kooperationsgebot geben: Universitäten und Hochschulen müssen das Militär unterstützen, wenn das Wissenschaftsministerium das auf Antrag der Bundeswehr für notwendig erachtet. Demnach dürfen Forschungsergebnisse auch für militärische Zwecke der Bundesrepublik oder ihrer Verbündeten genutzt werden. „Eine Beschränkung der Forschung auf zivile Nutzungen (Zivilklausel) ist unzulässig“, heißt es unmißverständlich.
Thüringen, das von einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung unter Bodo Ramelow (Linkspartei) regiert wird, hält hingegen an den bisherigen Regelungen fest. Die im Hochschulgesetz des Landes festgeschriebenen Zivilklauseln bedeuteten kein generelles Kooperationsverbot mit der Bundeswehr, sagte eine Sprecherin des Wissenschaftsministeriums gegenüber dpa. Einen Anlaß für eine Gesetzesänderung gebe es nicht. Seit 2018 ist in dem Freistaat festgeschrieben, daß sich die Hochschulen selbstbestimmt eine Zivilklausel geben müssen, „die sich an moralisch-ethischen Standards ausrichtet“. Das können die Hochschulen etwa durch Ethikkommissionen oder Genehmigungspflichten für bestimmte Vorhaben sicherstellen.
„Gute Verteidigung braucht gute Innovation“
In Hessen wiederum hat das neue Regierungsbündnis aus CDU und SPD im Koalitionsvertrag den Hochschulen Hilfe bei der Weiterentwicklung der „Friedens- und Konfliktforschung“ angeboten: „Dazu gehört auch eine Unterstützung der Hochschulleitungen bei der Überprüfung von Zivilklauseln.“ Doch nach Angaben des SPD-geführten Wissenschaftsministeriums hat bislang noch keine der sieben hessischen Hochschulen mit einer Zivilklausel von dem Angebot, diese überprüfen zu lassen, Gebrauch gemacht, berichtet die FAZ.
Dennoch sind linke Politiker und Aktivisten längst dabei, den Widerstand gegen ein drohendes Ende der Zivilklauseln an deutschen Hochschulen zu organisieren, das sie als Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit kritisieren. Mitte März fand an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main ein sogenannter „Zivilklauselkongreß“ statt, zu dem Gewerkschaften und linke Organisationen wie die Deutsche Friedensgesellschaft eingeladen hatten. Die Veranstalter gaben sich kämpferisch: „Der Öffnung von Hochschulen für das Militär – der Militarisierung der Bildungseinrichtungen – wirken wir entgegen! Wir wollen zivile Wissenschaft. Mit allgemeinwohlorientierter, international kooperativer Wissenschaft schaffen wir Grundlagen für die humanistische Lösung von Klimakrise, Kriegen, Flucht, Vertreibung und der globalen sozialen Ungleichheit. Entsprechende Wissenschaft trägt bei zu einer friedlichen und menschenwürdigen Entwicklung überall“, heißt es in dem Aufruf zum Kongreß.
Unterstützung für einen Abbau der Zivilklauseln kommt dagegen aus der Wissenschaft. Der Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften, Jan Wörner, plädierte im Deutschlandfunk mit Blick auf den Angriff Rußlands auf die Ukraine dafür, die Zivilklauseln zu streichen. „Ich glaube, gute Verteidigung braucht auch gute Innovation“, sagt er. „Und Innovation kommt durch Forschung. Und deshalb glaube ich, daß die Forschenden durchaus auch bereit sein sollten, da entsprechend unterstützend tätig zu werden.“ Wörner zieht zudem in Zweifel, daß es überhaupt möglich ist, zwischen ziviler und militärischer Forschung zu trennen. „Es gibt keine Forschung, die sie nicht in beide Richtungen benutzen können. Ob das Navigation ist, Erdbeobachtungen, Quantentechnologien, Nanomaterialien, selbst Geistes- und Gesellschaftswissenschaften können Sie natürlich unterschiedlich nutzen“, sagte er.
Ähnlich sieht man das auch im FDP-geführten Bundesforschungsministerium. Dort rät man, „die teilweise strikte Trennung zwischen ziviler und militärischer Forschung in Deutschland zu hinterfragen“, und beruft sich dabei auf entsprechende Ratschläge aus dem aktuellen Jahresgutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation. Wenn von möglichen Synergien zwischen ziviler und militärischer Forschung und Entwicklung die Rede ist, spricht die Fachwelt von zwei Möglichkeiten: den sogenannten Spillovers, also Übertragungseffekten, und vom Dual Use, zu deutsch dem doppelten Verwendungszweck. Beim einen geht es also um die Übertragung ziviler Forschungsergebnisse auf das Militärische (und umgekehrt), beim anderen darum, ein und dasselbe Ergebnis in beiden Bereichen nutzen zu können. „In vielen Ländern werden Spillovers und Dual Use bewußt gefördert, da sie zu Leistungs- und Effizienzsteigerungen sowohl im militärischen als auch im zivilen Sektor beitragen können“, heißt es im Gutachten der Expertenkommission. Bekannte Beispiele seien die amerikanische Defense Advanced Research Projects Agency (Darpa) und die „Einheit 8200“ des israelischen Militärs. Daß Deutschland aufgrund der strikten Trennung von militärischer und ziviler Forschung bislang weitgehend auf solche positiven Effekte verzichtet, könne sich das Land gerade in diesen Zeiten nicht länger leisten, betonte Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger.
Während linke Aktivisten die Zivilklauseln aus grundsätzlichen politischen Überzeugungen verteidigen, stellen Experten in Frage, ob eine Abschaffung dieser Regelungen denn tatsächlich zu einem Aufschwung der militärischen Forschung an den Hochschulen sorgen würde. In Sicherheitskreisen sind die Universitäten, mit Ausnahme der Bundeswehr-Universitäten in Hamburg und München, nicht zuletzt aus Sicherheitsbedenken nicht die erste Wahl bei der Forschung und Entwicklung von Militärtechnik. Hier greift man vorzugsweise auf verläßliche außer-universitäre Forschungseinrichtungen zurück. Viele sehen in dem neu entflammten Kampf um die Zivilklausel auch eine reine Symbolpolitik. Durch den Wegfall dieser Regelungen werden nicht automatisch neue, militärisch verwertbare Forschungsprojekte angestoßen. Denn hierfür sind zuallererst ausreichend finanzielle Mittel notwendig – und die sind, wie überall, wenn es um die Bundeswehr und die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands geht, nach wie vor äußerst knapp bemessen.
Daran dürfte sich auf absehbare Zeit nichts ändern. Denn „eine Förderung von zielgerichteter militärischer Forschung“ sei nicht geplant, heißt es aus dem Wissenschaftsministerium.
Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit?
Rund 40 Universitäten und über 30 weitere Hochschulen in Deutschland haben sich mit einer sogenannten „Zivilklausel“ dazu verpflichtet, nur für „friedliche Zwecke“ zu forschen. Die erste dieser Festlegungen entstand 1986 an der Uni Bremen. Darin heißt es: „Der Akademische Senat lehnt jede Beteiligung an Wissenschaft und Forschung mit militärischer Nutzung bzw. Zielsetzung ab und fordert die Mitglieder der Universität auf, Forschungsthemen und -mittel abzulehnen, die Rüstungszwecken dienen können.“ Nach Auffassung der Bundesregierung sind wissenschaftliche Einrichtungen bei der Abfassung solcher Klauseln „aufgrund der verfassungsmäßig garantierten Wissenschaftsfreiheit grundsätzlich unabhängig, soweit sie bei der konkreten Ausgestaltung den durch das Grundgesetz und das jeweilige Landesrecht gesteckten Rahmen einhalten“. Ganz anders sieht das der Jurist Markus Kerber, Professor an der TU Berlin. Gerade wegen der verfassungsmäßig garantierten Wissenschaftsfreiheit hätten Universitäten „zu keinem Zeitpunkt die Befugnis, Hochschullehrern die Befassung mit militärisch orientierter Forschung oder gar die Lehre derselben zu verbieten“. (vo)