© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/24 / 12. Juli 2024

„Flieg nach Hause und lös’ alles auf“
Auswandern: Was treibt immer mehr Deutsche dazu, sich im Ausland niederzulassen?
Martina Meckelein / CHristian SChreiber / Mathias Pellack

Sie ziehen nach Ungarn, den USA oder auf die Philippinen. Was vertreibt Deutsche aus ihrer Heimat? Warum ist die Ferne erstrebenswerter als das Vertraute? Die JUNGE FREIHEIT fragte nach. Tausende Kilometer entfernt standen Auswanderer uns Rede und Antwort. Und es schälen sich, bei allen individuellen Anlässen, im Kern zwei Gründe heraus. Finanzielle Vorteile im Ausland und die Enttäuschung über eine große Liebe. Allein 3,8 Millionen Deutsche leben inzwischen in den 38 entwickelten Ländern der OECD.

„Ich bin nicht so ein politischer Mensch. Manche US-Amerikaner sagen hier, sie wollten wegziehen, wenn Trump wieder an die Regierung kommt. Dafür verlasse ich doch nicht mein Haus!“, erzählt uns Sylvia Bauch, geboren in Braunschweig aus Florida: Es ist 7.30 Uhr morgens, als die Friseurmeisterin, bei knapp 30 Grad auf der Terrasse sitzend, mit der JF telefoniert. „Ich habe mir gerade den Sonnenaufgang angeschaut. Es ist einfach wunderschön hier.“ Schon vor mehr als 30 Jahren begann sie mit ihrem Mann die Vereinigten Staaten von Amerika zu bereisen. „Jedesmal wenn wir zurück nach Deutschland flogen, wäre ich gerne länger in den Staaten geblieben.“ Vor elf Jahren kauften sie ein Einfamilienhaus in Naples, Florida, am Golf von Mexiko. Baujahr 1984, drei Schlafzimmer, zwei Bäder, Pool und Garten, fünf Minuten zum Strand.

Wer auswandern will, braucht einen guten Plan und Geld

2012 nach der schweren Finanzkrise entdeckte Bauch eine Immobilienanzeige. Eine Wohnung wurde für 60.000 US-Dollar zum Kauf angeboten. „Der Makler war Deutscher und sagte uns, daß der Kaufpreis zwar niedrig, aber der Jahresbeitrag in solch einem Resort ungefähr 100.000 US-Dollar betrüge.“ Zurück in Deutschland winkten die Banken ab, es gäbe keinen Kredit für eine Immobilie in Florida. „So haben wir unser Haus in Braunschweig beliehen und kauften das Haus hier. Verstehen Sie es nicht falsch, wir waren ganz zufrieden in Deutschland. Wir sind erfolgreich, haben Haus, ein Geschäft und zwei Kinder.“ 

Statistisch lagen die Zahlen der Fortzüge der Deutschen in den vergangenen Jahren auf gleichbleibend hohem Niveau. In ein bestimmtes Ausland zogen im Vorjahr 136.638. Viele zögen aber auch weg, ohne daß es die Statistik registriere. Die Datenlage sei dünn, sagt der Migrationsforscher Wido Geis-Thöne vom Institut der deutschen Wirtschaft: „Was man da sehr deutlich sieht, ist, daß die meisten, die wegziehen wollen, nicht auf Dauer wegziehen wollen, sondern auf kurze Zeit, und Hochqualifizierte sind. Also, das hat sehr viel mit internationaler Mobilität, mit Bildungs- und Erwerbskarrieren zu tun.“ Eine Befragung aus dem Jahr 2019 ergab, daß der Netto-Jahreslohn im ersten Auslandsjahr um durchschnittlich 1.186 Euro angestiegen ist. Etwa drei Viertel aller Deutschen, die wegziehen, haben einen Hochschulabschluß.

In Braunschweig besitzt Bauch einen großen Friseursalon mit 18 Stühlen, „aber ich liebe Florida, das Wetter, die Hitze, die Sonne.“ Seit zwei Jahren – Sohn und Tochter sind aus dem Gröbsten raus – leben Sylvia Bauch und ihr Mann in einer der reichsten US-Gemeinden. Sie begann einen neuen Betrieb auf die Beine zu stellen. Dazu mußte die heute 60jährige das E-2 Treaty Investor Visum beantragen. „Aber man kriegt dieses Visum nur, wenn man Geld und einen Plan hat, wie es zu investieren ist.“ 

Die Unternehmerin mietet mit viel Glück auf drei Jahre, – das erste Jahr war im Voraus zu zahlen –, einen Frisiersalon, übernahm von der Inhaberin die Ausstattung, ließ von einem Profi einen Businessplan über eine Dauer von fünf Jahren erstellen. „Die sind wirklich kompliziert, 90 Seiten stark. Das reicht man beim Konsulat ein, wird man zum Interview geladen und stellt sein Konzept vor.“ Sechs Stühle solle ihr kleiner Salon haben, sie wolle sechs Tage die Woche arbeiten und einige Stühle vermieten. 

Die Behörden nahmen die Idee an, sie bekam ihr Visum. Eine Gesellen- oder Meisterprüfung gibt es in den USA nicht. „In Amerika geht es in der Ausbildung ein Dreivierteljahr nur um Theorie, dann dürfen sie loslegen.“ Die deutsche Ausbildung habe einen guten Ruf. „Aber anstrengen müssen wir uns schon, es gibt hier sehr gute Friseure.“ 

Die deutsche Staatsangehörigkeit behält sie noch, besitzt keine Greencard, obwohl sie seit 20 Jahren an der Lotterie teilnimmt. „Es ist ganz schön warm“, sagt sie, das werden die Ausläufer eines Hurrikans sein, der gerade in Texas wütet. Sorgen um das Haus macht sie sich nicht. „Das ist 40 Jahre alt, hat schon einiges erlebt.“ Die Holzständerbauweise knickt zwar schnell ein, läßt sich aber ebenso schnell und kostengünstig wieder aufbauen. Über Bauchs Grundstück watscheln gerade Enten. „Wo Enten laufen, sind Alligatoren weit weg“, erklärt sie lachend. „Ich bin einfach sehr glücklich hier.“ 

Strukturiert ging auch Jens Krause bei seiner Suche nach einer neuen Heimat vor. Der Westfale ist 1964 in Lengerich geboren. Der Betriebswirt arbeitete 30 Jahre als Unternehmensberater. Von 2015 bis 2017 war er AfD-Fraktionsgeschäftsführer in Niedersachsen. „Schon während der Zeit haben meine Frau und ich uns häufig die Frage gestellt, was machen wir, sollen wir auswandern?“ Sie sprachen mit Freunden in Paraguay und Spanien. „Uns war dann schnell klar“, sagt Krause, „daß wir wegen der Kinder in Europa bleiben würden.“ 

Die gesellschaftliche Gängelei in der Corona-Zeit war entscheidend

Der ausschlaggebende Funke war dann die „gesellschaftliche Gängelei“ während der Corona-Zeit. „Wir sind beide nicht geimpft, waren Repressionen ausgesetzt.“ Die Wahl fiel auf Ungarn. Aber zuvor bereiste das Ehepaar zwei Jahre lang das Land vom Plattensee über die Donau bis zu den Karpaten. „Wir haben gesucht zu einer Zeit, wo die Enttäuschung Deutschland verlassen zu müssen, groß war. Wir fuhren mit einem Dorn im Herzen durch Ungarn.“

Zuerst ging es in die Pußta. „Die Sprachbarriere ist natürlich ein Problem, Ungarisch soll die zehntschwerste Sprache der Welt sein.“ Schnell wurde den beiden klar, daß sie eine Gegend mit relativ wenig Deutschen wollten. Die Pußta fiel damit aus. Am Plattensee gibt es ganze deutsche Dörfer.  „Der Plattensee ist so eine Art Ballermann zwo geworden“, sagt Krause. Ungarn ziehen dort weg. 

„Wir wollen uns doch in die ungarische Gesellschaft integrieren, besuchen eben deshalb keine deutschen Stammtische. Was die Deutschen hier machen, halte ich übrigens für einen Riesenfehler. Die benehmen sich in Ungarn so wie die Asylanten in Deutschland, einfach peinlich.“ Es gäbe zwei Gruppen Deutscher. „Die, die einfach viel billiger leben wollen und die, die sich Orbán-Bilder an die Wand hängen und denken, alles wird gut.“ Auch Krause war ein 110-Prozentiger „Orbán-Fan“, erzählt er uns. „Nun, das Bild hat ein paar Risse bekommen.“

2022 waren Krauses wieder auf Ungarntour, um ein Haus zu finden. Sie hatten deutschsprechende Makler kontaktiert, Angebote eingeholt, Immobilien angeschaut. Doch Termine klappten nicht, oder die Besitzer wollten doch nicht verkaufen. „Der Ungar ist hellwach, wenn es darum geht, mit Deutschen Geschäfte zu machen“, sagt er. Es würden viele Schrottimmobilien angeboten. Deshalb rät er, niemals ohne Gutachter ein Haus zu kaufen. „Auf der Heimreise entdeckten wir es dann plötzlich auf einer Facebook-Seite. Wir kontaktierten die Maklerin und waren schockverliebt.“ Krauses machten im Juli einen Vorvertrag. Anwaltliche Beratung holten sie über die Deutsch-Ungarische-Gesellschaft ein. 

„In Ungarn darf man pro Person nur einen Hektar landwirtschaftliche Fläche kaufen. Bevor der Verkauf rechtskräftig ist, gibt es einen Aushang in der Gemeinde, damit jeder ortsansässige Bauer informiert ist und sein Vorkaufsrecht wahrnehmen kann“, sagt Krause. Es gab kein Veto. Seit März 2023 sind Krauses Eigentümer eines 1,8 Hektar großen Gehöfts von 1892. Ein Langhaus, die Grundmauern sind 60 Zentimeter dick. „Es war schwere Maloche, das Haus und das Gästehaus umzubauen. Unser Konzept, was wir überhaupt machen wollen, kam nach und nach.“

Es sei ein Irrglaube, daß man in Ungarn billiger wohne und lebe. Zwingend sei Englisch oder Russisch. Krause baute sich eine „Art Mischkonzern“ auf, bestehend aus Selbstversorgung, Camping für Jäger und tatsächlich auch Menschen, die sich im Tierschutz engagieren. Dazu kommt ein 30 mal 50 Meter großer Schwimmteich, Hühner, Schweine, Hunde und Gänse, und 80 Apfel-, Birnen- und Quittenbäume.

Krause hat als erstes Karten drucken lassen und an die Nachbarschaft verteilt. „Wir sind Gäste“, stand dadrauf. Er stellte sich beim Bürgermeister vor. „Auf dem Land hier herrscht grenzenlose Freundlichkeit. Ein Nachbar stand plötzlich bei mir vor der Tür mit einer Liste in der Hand, was ich alles zu tun hätte, bei welchen Behörden ich mich zu melden hätte. Aber trotz alledem Vorsicht: Ungarn sind schnell tödlich beleidigt!“ Man solle „Triggerpunkte“ vermeiden. Sein Resümee: „Der Schritt war nicht leicht, aber rückblickend sage ich, daß ich es definitiv so wieder machen würde. Das Wetter, die Ruhe und der geistige Abstand zu Deutschland tun wohl. Wissen Sie, ich liebe mein Land, aber mein Land liebt mich nicht.“

Der Berliner Eberhard Kiersch ist gerade 72 Jahre alt geworden, vor zwei Jahren wurde er nochmal Vater eines Sohnes, er lebt auf den Philippinen. 1995 war der Flugzeugmechanikermeister mit seiner ersten Frau zum ersten Mal dort. „Das Wetter, das Essen, die Menschen gefielen mir sofort.“ Er könne nicht sagen, daß ihn das politische Klima in Deutschland erdrückt habe. „Zu dem Zeitpunkt war Deutschland noch Deutschland. Es gab nicht diese Probleme mit der Einwanderung wie heute.“ Nach seiner Scheidung zog er 2016 in den asiatischen Inselstaat. „Ich lebte vier Jahre hier, pendelte immer wieder, hab ja eine kleine Werbeagentur in Hamburg.“ Doch 2020 wachte er, erzählt Kiersch, eines Morgens auf und sagte sich: „Jetzt fliegst du nach Deutschland und löst alles auf.“ Am 6. Februar flog er, am 5. März kam er zurück. Eine Punktlandung. „Fünf Minuten später schlossen die Philippinen die Grenzen wegen Corona.“

Kiersch wohnt ländlich, auf Negros, der drittgrößten Insel des Archipels. Er bereute seine Entscheidung nie. „Voraussetzung ist allerdings eine gute Planung und sich mit den Sitten und Gebräuchen, auch der Geschichte des Landes auseinanderzusetzen, damit man nicht von einem Fettnäpfchen ins nächste tritt. Und alles muß gut durchgerechnet sein. Als Ausländer darf ich ja auf den Philippinen nicht arbeiten. Aber da ich Rentner bin, komme gut über die Runden.“ 

Häufige Auswanderungsziele sind die USA, Schweiz und Österreich

Auf den Philippinen sind die Amtssprachen Filipino und Englisch. „Ich war bei der Bundesmarine, mein Englisch ist ausreichend, ansonsten, gebe ich zu, ist meine Sprachbegabung nicht so ausgeprägt“, sagt Kiersch und lacht dabei ins Telefon. Demnächst hofft er auf Besuch von einem Bekannten. Klaus Ihde (59) packt in Hamburg schon seine Kartons. Er will in die Hauptstadt Manila. „Dort ist es sehr teuer, ich muß sehen, ob ich zurechtkomme. Sicher ist, daß man in Manila nicht die Hände in den Schoß legen kann.“ Ihles Lebensgefährtin stammt aus dem südostasiatischen Staat. Auch sie will weg. Allerdings zieht es die Krankenschwester in die USA. „Der Verdienst ist dort dreimal so hoch wie hier“, sagt er. Beide wollen Deutschland verlassen, weil der Zustrom an Migranten ihnen zu hoch ist. „Meine Freundin sagt, diese Menge sei einfach nicht integrierbar.“

Die häufigsten Auswanderungsziele sind die Schweiz, Österreich, die USA, Spanien und Frankreich. Deutschland hat mit einer Auswanderungsrate von 5,1 Prozent, die dritthöchste weltweit.  Die Rate drückt aus, wieviele Deutsche im Verhältnis zur Bevölkerung in 25 Jahren das Land verlassen. Aber im Jahr 2023 kehrten auch 95.210 Deutsche wieder zurück. Denn in den Zahlen enthalten sind auch Studenten, die ein Auslandssemester absolvieren. 63 Prozent aller Auswanderer sind im Alter zwischen 25 und 39 Jahren. Deutlich mehr als der Anteil dieser Altersklasse in der Gesamtbevölkerung ausmacht. Auch Rentner, die längere Zeit in wärmeren Gefilden verbringen, aber eben auch eine beachtliche Zahl an Fachkräften, deren Hauptgrund finanzieller Natur ist: Die Steuerlast in Deutschland ist zu hoch, die Verdienstmöglichkeiten zu gering. 

Eine Besonderheit gibt es in der südwestdeutschen Grenzregion. Dort sind in den vergangenen Jahren auffallend viele Deutsche, vorwiegend aus dem Saarland, aber auch Rheinland-Pfalz, nach Frankreich oder Luxemburg gezogen. Dies hat mit einer günstigeren Besteuerung oder besseren Wohnverhältnissen zu tun. Ähnlich ist es in Süddeutschland. 

Die Unternehmensberatung Boston Consulting Group, die den Verlust an Wirtschaftsleistung in Industrienationen analysiert, kommt zu dem Schluß, daß die Löhne in Deutschland deutlich steigen müßten und das Steuer- und Abgabensystem auf ein angemessenes Maß zurückzuführen ist, um die Auswanderung zu bremsen und die dringend benötigten Fachkräfte im Land zu halten.

Grafiken siehe PDF Datei