Was am vergangenen Sonntag bei der Parlamentswahl wie eine faustdicke Überraschung wirkte, nämlich daß Le Pens Rassemblement National in Frankreich nur auf Platz drei kam, entschied sich in Wahrheit am Dienstag zuvor. Bis zum 2. Juli um 18 Uhr mußten Bewerber, die sich im ersten Wahlgang für den zweiten Wahlgang qualifiziert hatten ihre Stichwahlteilnahme bekanntgeben. In über 300 der 577 Wahlkreise hatten mindestens drei Bewerber das notwendige Quorum von 12,5 Prozent erreicht, so daß unter Beibehaltung aller Kandidaturen in der Regel Le Pens im ersten Wahlgang siegreicher RN mit dem Direktmandat hätte rechnen können.
Doch dann geschah trotz Präsident Emmanuel Macrons Warnung vor beiden Extremen das nur scheinbar Unvorhersehbare: Die Vertreter der Neuen Volksfront (NFP – Vereinigte Linke) einigten sich mit dem Wahlbündnis des Präsidenten (Ensemble) darauf, jeweils den drittstärksten Kandidaten zurückzuziehen, wenn ein aussichtsreicher RN-Kandidat ebenfalls noch im Rennen war. Gleichzeitig riefen die zurückgezogenen Kandidaten des Republikanische Front getauften Zweckbündnisses zur Wahl des jeweils verbliebenen RN-Gegenkandidaten auf. Premierminister Gabriel Attal rechtfertigte den Schachzug damit, eine absolute Mehrheit des RN verhindern zu wollen.
Schwere linke Krawalle überschatten den linken Wahlsieg
Damit blieben am Mittwoch von 299 Dreierkonstellationen mit RN-Beteiligung nur noch 92 übrig. Und trotz der auch im zweiten Wahlgang höchsten Stimmenzahl von 10,1 Millionen für den RN (gegen sieben Millionen für NFP (Linke) und 6,3 Millionen für Macrons „Ensemble“) reichte es letztlich für das Le-Pen-Lager nur für 143 Abgeordnete gegen 182 für Jean-Luc Mélenchons Linksbündnis und immerhin 168 für das Mittebündnis des Präsidenten.
Prozentual gesehen war das Ergebnis für den Rassemblement National noch eindrucksvoller: 37,1 Prozent der Wähler in Frankreich stimmten für die noch vor wenigen Jahren von einer breiten Mehrheit von Linksaußen bis zu den Republikanern verteufelte Partei. Es folgte das Linksbündnis mit 25,7 Prozent und die ehemalige „Präsidentenmehrheit“ mit 23,2 Prozent der Stimmen. Die Republikaner folgten abgeschlagen mit 5,4 Prozent. Die alte und vermutlich auch neue Fraktionsvorsitzende des RN in der Nationalversammlung, Marine Le Pen, spricht darum auch nur von einem „Aufschub“, den Macron und die Linke in bezug auf ihre auf Dauer unabwendbare Regierungsübernahme erreicht hätten.
Dem zunächst erleichterten Präsidenten Macron bleibt aufgrund der Pattsituation dreier Lager im Parlament dagegen im Moment nichts anderes übrig, als auf Zeit zu spielen. Weniger als drei Wochen vor Beginn der Olympischen Spiele in Paris und unter dem Eindruck erneuter schwerer Krawalle in der Wahlnacht kann er es sich nicht erlauben, ohne Regierung dazustehen. Und daß sich bis zur Olympiade eine Parlamentsmehrheit herausbildet, kann eigentlich ausgeschlossen werden, selbst wenn die erstplazierte Linke angekündigt hat, noch diese Woche einen gemeinsamen Premierministerkandidaten präsentieren zu wollen.
Entsprechend lehnte Macron auch das Rücktrittsgesuch Gabriel Attals mit der Bitte ab, „Premierminister zu bleiben, um die Stabilität des Landes zu gewährleisten“. Fest steht nur, daß der RN-Vorsitzende Jordan Bardella für sich das Thema Regierungsübernahme abgehakt hat. Der kurz zuvor frisch wiedergewählte Europaabgeordnete hat sich bereits Anfang der Woche zum Chef der neu gebildeten EU-Parlamentsfraktion Patrioten für Europa wählen lassen.
Wie es in Frankreich weitergeht, ist kaum abzuschätzen, da die Mehrheitsverhältnisse für das Land absolutes Neuland sind. Größter Stolperstein für eine Regierungsübernahme des Linksbündnisses mit Unterstützung von Macrons Renaissance-Partei als Fortsetzung der Republikanischen Front in der Stichwahl ist Jean-Luc Mélenchons linkspopulistisches LFI („Das nichtunterworfene Frankreich“).
Republikaner müssen sich neu aufstellen
Pikanterweise ist die Partei mit 74 der 182 Neue-Volksfront-Abgeordneten vor den gemäßigten Sozialisten (59 Abgeordnete) und den Grünen (28 Mandate) die stärkste Kraft des Linksbündnisses. Während Mélenchon gern Regierungschef würde, hat allerdings Präsident Macron bereits ausgeschlossen, diesem eine Mehrheit zu verschaffen. Denn Mélenchon wird nicht nur seine Nähe zu Rußland, Antisemitismus und EU-Feindlichkeit vorgeworfen, er überschlägt sich auch bereits wieder mit unbezahlbaren sozialen Wohltaten, die die mühevolle Reformagenda Macrons der letzten sieben Jahre komplett zunichte machen würden. So träumten Mélenchons Linkspopulisten bereits von Steuererhöhungen, der Wiedereinführung der Vermögenssteuer, einem Mindestlohn von 1.600 Euro netto, automatischen Lohnanpassungen an die Inflation und natürlich der Wiederabsenkung des Renteneintrittsalters.
Deutlich schwieriger dürfte auf der anderen Seite die Rollenfindung für den abtrünnigen Noch-Republikaner-Vorsitzenden Éric Ciotti werden. In seinem Wahlkreis mit 45,1 Prozent der Stimmen gewählt und mit 16 weiteren abtrünnigen Republikanern als Abgeordneten, war sein Wahlbündnis mit Marine Le Pen eigentlich ein Erfolg. Da seine Überrumpelung der Republikaner aber mißlang und mangels Kooperation nicht einmal eine theoretische Mehrheit rechts des Macron-Lagers möglich wurde, sitzt er jetzt im politischen Niemandsland ohne Aussicht auf Aussöhnung mit seiner Partei fest.