Das Erdbeben der britischen Unterhauswahl hat das Parteiensystem schwerst erschüttert und die Konservative Partei in eine tiefe Krise gestürzt. Sie fiel mit nur noch 121 Mandaten in Westminister auf das schlechteste Ergebnis ihrer 190jährigen Geschichte. Von einem politischen „Armageddon“ sprachen entgeisterte Abgeordnete in der Wahlnacht vor einer Woche. Zahlreiche Tory-Granden verloren ihre Mandate. Der abgewählte Premier Rishi Sunak erklärte bei seinem Abschied aus der Downing Street zerknirscht ein zweifaches „I’m sorry“, eine Entschuldigung an das Land und die Partei.
Die Labour-Partei von Keir Starmer dagegen konnte triumphieren und besitzt mit 411 Sitzen im Unterhaus künftig eine Zweidrittelmehrheit. Allerdings verdeckt der vielbejubelte „Erdrutschsieg“, daß Labours Stimmanteil landesweit nur marginal auf rund 34 Prozent stieg. Einige Kommentatoren sprachen von einem „Potemkin-Erdrutsch“. Hinter der Fassade verberge sich eine eher schwache Zustimmung zu Starmers Partei, die weit weniger Wähler überzeugte als 1997 Tony Blair.
Nigel Farage ebnete den Weg für den Labour-Sieg
Labour holte die Wahlkreise der nordenglischen „Roten Wand“ zurück und gewann in fast ganz Schottland die Mandate. Die Partei verlor aber Stimmen an linke und propalästinensische Unabhängige und die Grünen. Adnan Hussain, neugewählter parteiloser Abgeordneter im nordenglischen Wahlkreis Blackburn, schrie in einem Saal voller Anhänger in islamischer Kleidung, er werde die Stimme für Gaza erheben „und bis zum Tode kämpfen, Inschallah“. Ähnliche Szenen gab es in anderen muslimischen Hochburgen.
Hauptgrund für den landesweiten Labour-Durchmarsch und die Tory-Implosion war der Antritt von „Mr. Brexit“ Nigel Farage, dessen Partei Reform UK rund vier Millionen Stimmen einsammelte. Sie wurde landesweit drittstärkste Partei, es reichte aber nur in fünf Wahlkreisen für den Sieg. Die Liberaldemokraten dagegen gewannen bei 3,5 Millionen Stimmen ganze 72 Parlamentssitze. Hinter jedem Mandat für Reform stehen rechnerisch gut 800.000 Stimmen, bei Labour sind es knapp 24.000. Beobachter sprachen von der „am meisten verzerrten britischen Wahl“ aller Zeiten.
Seit 1945 hat noch nie eine Partei mit so geringem Stimmenanteil eine Alleinregierung bilden können, betonte der Politikprofessor John Curtice.
Nigel Farage schaffte es immerhin – im achten Anlauf – im ostenglischen Seebad Clacton, ein Abgeordnetenmandat zu erringen, und kostete seinen Sieg aus. Der begnadete Rhetoriker wird die Bühne in Westminister zu nutzen wissen. Ex-Premier Boris Johnson verglich die Reform-Partei mit einem Asteroiden, dessen Einschlag für die Zerstörung der Tories verantwortlich sei.
Schon am ersten Tag nach seinem Sieg hat der neue Premierminister Keir Starmer das Ruanda-Abschiebeprogramm für illegale Immigranten gestoppt und es für „tot und begraben“ erklärt. Die Hoffnung der Konservativen war gewesen, das Ruanda-Abkommen werde illegale Asylbewerber abschrecken, die auf kleinen Booten von Schleppern über den Ärmelkanal gebracht werden. Mit dem Aus für das Abkommen sind auch die schon an Ruanda ausbezahlten 270 Millionen Pfund verloren.
Zwei Lager streiten um die künftige Ausrichtung der Tories
Die neue Labour-Innenministerin Yvette Cooper ist bekannt dafür, daß sie noch vor wenigen Jahren mit „Refugees Welcome“-Plakat posierte – ein scharfer Kontrast zur früheren Tory-Innenministerin Suella Braverman, die den Asylantenzustrom rigoros drosseln wollte. Das Versagen der Tories, die Migration nach dem Brexit zu kontrollieren, hat zu ihrem Untergang entscheidend mit beigetragen.
Nach dem Wahldesaster leckten sie nun ihre Wunden. Der „Kampf um die Seele“ der schwer verwundeten Partei dürfte sich in den nächsten Wochen verschärfen. Sofort nach der Wahl erhoben sich zwei Lager, die um die künftige Richtung ringen: Der frühere Schatzkanzler George Osborne mahnte, die Partei dürfe nicht nach rechts schwenken, sondern müsse Wähler in der Mitte gewinnen. Die Tory-Rechte indes wünscht einen harten Oppositionskurs. Ex-Innenministerin Braverman funkte Signale, daß sie Nigel Farage willkommen heißen würde.
Bei der anstehenden „Leadership Race“, dem Wahlverfahren für einen neuen Anführer der Tory-Partei sehen die Buchmacher die schwarze Ex-Wirtschaftsministerin Kemi Badenoch als Favoritin. Die rhetorisch begabte und selbstbewußte Badenoch, Tochter eines Ärztefamilie aus Nigeria, hat sich in Rededuellen mit Labour gegen die linke Identitätspolitik und das Opfergetue von Minderheiten gestellt. Auch als Kritikerin der Transgenderlobby hat sie sich hervorgetan. Weitere Bewerber um den Parteivorsitz könnten der zentristische Sicherheitspolitiker Tom Tugendhat, die rechte Innenpolitikerin Braverman oder Ex-Wohnungsminister Robert Jenrick sein.