Fußball ist Leidenschaft, Hingabe. Fußball setzt Energien frei und Emotionen. Auf dem Platz, auf den Tribünen, vor dem Fernseher. Das kann auch mal danebengehen. Manche Verhaltensauffälligkeiten, jenseits von objektiven Regelverletzungen, mögen geschmäcklerisch sein. Politische Korrektheit und Fußball vertragen sich halt mitunter nicht gut. Wer dennoch immer gleich mit der roten Karte wedelt, hat den Sport nicht verstanden.
Das trifft auf Politiker und Medienleute wie auch auf die Sportverbände selbst zu. „Immer wieder gerät der Sport durch Moralisierung und Politisierung in die ideologischen Gefechte eines Kulturkampfs“, kritisierte im vorigen Jahr der Kulturwissenschaftler Christian Schüle im Deutschlandfunk. Als ein Beispiel zitierte er die Posse um die One-Love-Binde bei der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer 2022 in Katar. Seither hat die Empörungsmaschinerie, die auf die richtige Gesinnung bei Spielern und Fans pocht, freilich noch einen Zahn zugelegt, wie die laufende Europameisterschaft zeigt.
Für Aufruhr in der Berichterstattung und sogar politische Verwicklungen auf diplomatischem Parkett sorgte in der vorigen Woche ein einziges Handzeichen. Der türkische Nationalspieler Merih Demiral hatte nach seinen beiden siegbringenden Toren beim 2:1 im Achtelfinale gegen Österreich den sogenannten Wolfsgruß gezeigt. Daraufhin sperrte der europäische Fußballverband Uefa den 26jährigen, der aktuell bei dem saudischen Klub Al-Ahli unter Vertrag steht, für zwei Spiele. Deswegen mußte die Türkei im Viertelfinale gegen die Niederlande ohne ihren Abwehrspieler auskommen.
Was hat es mit dem Wolfsgruß auf sich? Die Geste ist das Zeichen der türkischen „Ülkücü“-Bewegung, auch Graue Wölfe genannt. Laut dem Bundesamt für Verfassungsschutz sind sie mit 18.500 Mitgliedern die größte rechtsextremistische Organisation in Deutschland. Der Gruß könne als Bekenntnis zu deren Ideologie gewertet werden. „Dies gilt auch, wenn ‘Ülkücü’-Anhänger diese Handgeste verharmlosen wollen, als bloßes Zugehörigkeitsbekenntnis zu einer uralten Volksgruppe“, heißt es in dem aktuellen Verfassungsschutzbericht. Verboten ist der Gruß in Deutschland jedoch nicht.
Prompt meldete sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zu Wort. „Die Symbole türkischer Rechtsextremisten haben in unseren Stadien nichts zu suchen“, teilte sie auf dem Online-Portal X mit. Die Fußball-Europameisterschaft als Plattform für Rassismus zu nutzen, sei „völlig inakzeptabel“, so die Innenministerin. „Wir erwarten, daß die Uefa den Fall untersucht und Sanktionen prüft“, gab Faeser die Stoßrichtung vor.
Flankenschutz erhielt sie von dem Vorsitzenden der Kurdischen Gemeinde in Deutschland, Ali Ertan Toprak. Das CDU-Mitglied fordere gegenüber dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ harte Sanktionen und den Ausschluß Demirals vom Turnier. Die Gesellschaft für bedrohte Völker verurteilte den Wolfsgruß als Zeichen türkischer Ultranationalisten. Die Menschenrechtsorganisation forderte die Uefa ebenfalls auf, das Zeigen des Wolfsgrußes bei EM-Spielen durch Fans und insbesondere durch Nationalspieler nicht länger zu dulden. Der Nahostreferent der Gesellschaft, Kamal Sido, forderte Demiral auf, sich bei den Millionen Aleviten zu entschuldigen, „für die der Wolfsgruß ein Symbol der Unterdrückung und Verfolgung ist“. Der Menschenrechtler appellierte an die türkische Nationalmannschaft, sich öffentlich vom Zeigen des rechtsextremen Symbols zu distanzieren.
Nationalspieler Demiral verteidigte unterdessen seine Geste und begründete sie mit Nationalstolz. „Wie ich gefeiert habe, hat etwas mit meiner türkischen Identität zu tun“, sagte der von der Uefa in der Partie gegen Österreich als Spieler des Spiels ausgezeichnete Demiral bei einer Pressekonferenz: „Deswegen habe ich diese Geste gemacht.“ Es werde „hoffentlich noch mehr Gelegenheiten geben, diese Geste zu zeigen“.
Die Türkei nahm Demiral ebenfalls in Schutz. „Die Reaktion der deutschen Behörden gegenüber Herrn Demiral sind selbst fremdenfeindlich“, erklärte das Außenministerium in Ankara und bestellte den deutschen Botschafter ein. Im Gegenzug beorderte das Auswärtige Amt den türkischen Botschafter ins Ministerium, um mit ihm über die Wolfsgruß-Affäre zu sprechen. Eine – absehbare – Folge dieser theaterreifen Inszenierungen war, daß bei dem nachfolgenden Spiel der Türkei gegen die Niederlande Tausende von türkischen Fans den Wolfsgruß zeigten.
Abwägende Stimmen gibt es in dieser Posse kaum. Eine der wenigen kam interessanterweise ausgerechnet von Deniz Yücel. Der ehemalige taz-Redakteur und Türkei-Korrespondent der Welt saß fast auf den Tag genau ein Jahr wegen angeblicher „Terrorpropaganda“ in türkischer Untersuchungshaft. In einem Welt-Interview erklärte er jetzt zu der Wolfsgruß-Debatte, es sei von Innenministerin Faeser nicht besonders glücklich gewesen, sie weiter angeheizt zu haben. Dann schilderte er die wechselvolle Geschichte und den Bedeutungswandel der Symbolik von der Gründung der türkischen Republik über ihre späte Aneignung durch die extreme Rechte bis zu ihrer teilweisen popkulturellen Verwendung. Sein Fazit: „Wäre ich Funktionär der Grauen Wölfe, würde ich Nancy Faeser und der Uefa eine Dankesmail schreiben.“
Eine andere differenzierende Wortmeldung kam von dem Publizisten Thomas Fasbender in der Berliner Zeitung am vergangenen Samstag. Er erklärte den unterschiedlichen Sinngehalt des Wolfsgrußes, der in deutschen Kindergärten und Grundschulen auch als Schweige- oder Leisefuchs bekannt ist. Je nach Kontext könne die Geste bedeuten: „Mund halten und zuhören“ (Schweigefuchs) oder „Ich bin ein Türke, will ein Türke sein“ (Wolfsgruß). Die jetzt aufkommenden Verbotsforderungen kommentierte er unmißverständlich: „Freiheiten, die sich keiner nimmt, weil alle Angst vor schiefen Blicken haben, vor kritischen Kommentaren, Ausgrenzung und Canceling, sind keine Freiheiten mehr. Und eine Demokratie, in der alle freiwillig das Richtige tun, das Gebotene und Vernünftige, ist keine Demokratie mehr.“
Was denken sich wohl Verbandsfunktionäre und Politiker dabei? Muß ein junger türkischer Nationalspieler, Sohn eines Betonbauers, den deutschen Verfassungsschutzbericht kennen? Soll er die auch auf türkisch (und arabisch) erreichbare Informations-Hotline des Bundesamtes in Bonn anrufen und sich erkundigen, welche Art von Jubel hierzulande opportun ist? Oder muß er mit den politischen Ansichten einer deutschen Innenministerin vertraut sein?
Die nichtsportliche Auseinandersetzung um den Wolfsgruß war freilich nicht die einzige bei dieser Europameisterschaft. Zuvor hatte die Uefa bereits den albanischen Nationalspieler Mirlind Daku ebenfalls für zwei Spiele gesperrt. Er soll nach dem 2:2 in der Nachspielzeit gegen Kroatien am 19. Juni vor den albanischen Fans in Hamburg nationalistische Gesänge angestimmt haben. In einer Mitteilung des Fußballverbandes hieß es dazu, Daku habe „den Fußball in Verruf gebracht“, indem er Botschaften nichtsportlicher Natur vermittelt habe. Zudem verdonnerte die Uefa den albanischen Verband zur Zahlung einer Geldstrafe in Höhe von 25.000 Euro, „weil er provokative Botschaften verbreitet hat, die nicht zu einer Sportveranstaltung passen“.
Das störte die Uefa offenbar bei jenen französischen Nationalspielern nicht, die mehrfach mit Blick auf die Wahl der Nationalversammlung vor einem Rechtsruck in ihrem Land gewarnt haben. So hatte der Mannschaftskapitän Kylian Mbappé bei der Auftaktpressekonferenz vor dem ersten Spiel Frankreichs gegen Österreich erklärt: „Wir haben die Möglichkeit, die Zukunft unseres Landes zu gestalten. Die Extremisten klopfen an die Tür. Deswegen: Geht wählen.“
Vor dem EM-Viertelfinale gegen Portugal legte der 25jährige Starstürmer, der für Real Madrid spielt, dann noch einmal nach: „Mehr denn je müssen wir wählen gehen. Es besteht eine echte Dringlichkeit. Wir können das Land nicht in die Hände dieser Menschen legen, es ist wirklich dringend. Wir haben die Ergebnisse gesehen, es ist katastrophal.“ Zuvor hatten bereits seine Teamkollegen Marcus Thuram und Ousmane Dembélé dazu aufgerufen, den Rassemblement National nicht zu wählen. Sanktionen der Uefa: Fehlanzeige. Der „Kampf gegen Rechts“ hat selbstverständlich auch während der Fußball-EM höchste Priorität.
Ebensowenig störte sich der Verband augenscheinlich an den Äußerungen des österreichischen Nationaltrainers Ralf Rangnick. In einem Interview mit dem ORF erklärte er: „Ich glaube, wir leben in einer bewegten Zeit, in der man nicht mehr sagen kann: Das eine ist Sport und das andere ist Politik, und die zwei Dinge haben nichts miteinander zu tun.“ Zuvor hatte er gegenüber der Zeitung Der Standard vor einem Erstarken des Rechtsextremismus gewanrt. „In Deutschland und in Österreich gibt es politische Strömungen und Entwicklungen, die mir große Sorgen bereiten. Vor allem aufgrund der Geschichte der beiden Länder. Wenn uns die Historie beider Länder etwas gelehrt hat, dann ist es die Gefahr, die von Rechtsextremismus und Faschismus ausgeht.“ Auch darauf reagierte die Uefa nicht.
Das Messen mit zweierlei Maß ist bei den Fußballverbänden gang und gäbe. Als Deutschlands Nationaltorwart Manuel Neuer bei der vorigen Europameisterschaft mit der Kapitänsbinde in Regenbogenfarben spielte, hatte die Uefa zwar kurzzeitig geprüft, ob er sie tragen darf, gab jedoch rasch ihren Segen dazu. Die Regenbogenbinde werde als „Zeichen der Mannschaft für Vielfalt und damit für ‘good cause’ bewertet“, teilte der Deutsche Fußball-Bund (DFB) erleichtert mit, nachdem er zunächst bestätigt hatte, daß sich die Uefa mit dem Fall befaßt. „Die Regularien besagen, daß die offiziell von der Uefa bereitgestellte Binde getragen werden muß“, hieß es da noch. Merke: Ein „good cause“, ein guter Zweck, heiligt die Mittel.
Bei der WM in Katar wollte die DFB-Auswahl dann mit der „One Love“-Binde ein Zeichen setzen. Doch die Fifa untersagte ihr das. Der Frust über dieses Verbot saß tief. Vor dem ersten Gruppenspiel gegen Japan hielten sich die Spieler beim obligatorischen Mannschaftsfoto aus Protest dagegen demonstrativ den Mund zu.
Derartige Peinlichkeiten mögen auf Spielerseite einer unrühmlichen Vergangenheit angehören. Die Moralhüter und Gesinnungswächter unter den Sportfunktionären, in Politik und Medien werden in ihrem erzieherischen Eifer jedoch nicht locker lassen. Mal geht es um Bekenntniszwang, mal um Distanzierungsverlangen, in jedem Fall um Übergriffigkeiten. Freigeister werden dem standhalten müssen.