© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/24 / 12. Juli 2024

Am Anfang bezauberte der Muschelkalk
Café Marx: Vor hundert Jahren wurde das Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main offiziell eröffnet
Felix Dirsch

Ursprünglich sollten Klinkersteine das Gebäude zieren; doch diese waren wegen der Rheinlandbesetzung nicht zu bekommen. Der Architekt des imposanten Hauses, Franz Roeckle, mußte deshalb mit Muschelkalk vorliebnehmen. Man nahm beim Betrachten einen „festungsähnlichen Charakter“ wahr, wie der Literat Siegfried Kracauer bemerkte. Nach längerem Vorlauf war es dann im Juni 1924 so weit: Ein Jahr nach der Entstehung der Stiftung, für die der reiche Unternehmer Hermann Weil (und sein Sohn Felix) erhebliches Kapital bereitgestellt hatte, konnte die Arbeit am technisch wie bibliothekarisch hervorragend ausgestatteten Institut für Sozialforschung endlich beginnen. 

Der Ort, Frankfurt am Main, wurde nicht zufällig gewählt. Das Umfeld der Einrichtung ist weithin als urban wie als bürgerlich-liberal zu charakterisieren. Das (vornehmlich säkulare) Judentum hatte seit Generationen einen hohen Anteil am kulturellen Leben der Stadt.

Kapitalismuskritik steht im Mittelpunkt aller Forschungen

Die Genese der bald Aufsehen erregenden linken Denkfabrik ist nicht von der Entwicklung kommunistisch-marxistischer Praxis wie Theorie zu trennen. Die letztlich erfolgreiche Revolution der Bolschewisten konnte wegen der unübersehbaren Begleiterscheinungen auch ihre prinzipiellen Befürworter nicht befriedigen. Ebenfalls gab das Scheitern verschiedener linker Umsturzversuche hierzulande Anlaß zum Nachdenken. Es bedurfte also eines Programms für die Neuausrichtung marxistisch-materialistischer Theorie. Sie mußte sich nach Frankfurter Lesart vom Ziel verabschieden, bloß in revolutionären Handlungen aufzugehen. Konflikte mit der offen systemfeindlichen KPD und politischen Agitatoren waren ob dieser Ausrichtung kaum zu vermeiden.

Die Protagonisten der frühen Stunde, zu denen der erste Direktor Carl von Grünberg und der Ökonom sowie Soziologe Friedrich Pollock zählten, legten die Marschrichtung fest: Kapitalismuskritik steht im Mittelpunkt aller Forschungen, nicht nur soziologischer und ökonomischer Studien. Der geistige Überbau sollte in allen Verästelungen berücksichtigt werden. Insbesondere Psychologie und Psychoanalyse erhielten einen hohen Stellenwert. Früh bestanden enge Verbindungen zu herausragenden Vertretern dieser Disziplinen, etwa zu Erich Fromm und Frieda Reichmann.

Einen starken Aufschwung konnte man feststellen, als mit Max Horkheimer ein neuer Direktor an der Spitze stand, der viele neue Kontakte herstellte, auch zu dem aufstrebenden Philosophen und Musikkritiker Theodor W. Adorno. Bald bestand reger Austausch mit dem Frankfurter Intellektuellenmilieu. Obwohl der engere Kern des Instituts und die weiteren Kreise, die sich herum bildeten, hauptsächlich aus Personen jüdischer Herkunft bestanden, kommt eine neuere Untersuchung von Philipp Lenhard zu dem Ergebnis, daß Einzelne aus dem näheren Umfeld den Weg zu den Nationalsozialisten gefunden hatten, darunter der Nationalökonom Klaus Wilhelm Rath und der Grünberg-Doktorand Karl Brockschmidt.

Nach der Schließung des Instituts durch die Nationalsozialisten übersiedelten die Leiter zuerst in die Schweiz, anschließend in die USA. Dort entstand in den frühen 1940er Jahren unter dem Titel „Dialektik der Aufklärung“ die spätere „Bibel der Studentenbewegung“ (Norbert Bolz). Die Autoren Adorno und Horkheimer wollten auf der Basis vieler Studien, die das Institut seit den 1920er Jahren hervorbrachte, klären, inwieweit die Analyse der spezifisch abendländischen Aufklärung (einschließlich der Entwicklung des Kapitalismus) zur Erhellung von Nationalsozialismus und Antisemitismus beitragen könne.

Die Exilanten, die sich in ihrer neuen Umgebung nicht wohlfühlten, veränderten ihr Theoriegebäude sukzessive. Horkheimer rückte langsam von der These ab, Kapitalismus führe zwingend zum Faschismus. Viele linke Studenten der 1960er Jahren wollten diesen Konnex freilich nicht aufgeben, eignete er sich doch vorzüglich zur Delegitimierung des Systems. 

Als Ende der 1940er Jahre die Hatz auf vermeintliche Marxisten in der US-Öffentlichkeit zugenommen hatte, entschieden sich Adorno, Horkheimer und einige andere „Frankfurter“ zur Rückkehr an ihre alte, inzwischen ausgebombte Wirkungsstätte. Hier empfingen sie die politischen Verantwortlichen mit offenen Armen. Der Institutsneubau auf dem heutigen Grundstück, mit Unterstützung der öffentlichen Hand 1951 errichtet, erleichterte die Arbeit.

Horkheimer skizzierte das neue Programm der Remigranten: Vergangenheitskritik, Westbindung und Demokratisierung waren die zentralen Ziele. Eine grundlegende Abhandlung, die vor 25 Jahren der Soziologe Clemens Albrecht in Zusammenarbeit mit Kollegen vorlegte, arbeitet die Akzentverschiebungen treffend heraus: Die „intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“ überwölbte aus Sicht linker Kritiker die bloß formale von 1949. Zu den wesentlichen Themen zählte die Aufarbeitung der Schoah. Seit den fünfziger Jahren wird neben dem Ausdruck „Kritische Theorie“ auch der von der „Frankfurter Schule“ immer gebräuchlicher – Begrifflichkeiten, die allerdings zu hinterfragen sind.

Nicht zuletzt im Zuge der Linkswende schlossen sich viele jüngere Intellektuelle in den sechziger Jahren dem jetzt prominenten Institut an: Stellvertretend sind Hermann Schweppenhäuser, Gerhard Schmidtchen, Jürgen Habermas, Ludwig von Friedeburg und Oskar Negt zu nennen.

Daß es in den späten Sechzigern zwischen den mittlerweile arrivierten Ordinarien Adorno und Horkheimer einerseits und vielen sich gern neomarxistisch nennenden Aktivisten andererseits zu erheblichen Reibereien gekommen war, kann nicht verwundern. Selbst der zwischen den Fronten vermittelnde junge Professor Habermas ließ sich zu seinem berühmten Verdikt vom „Linksfaschismus“ hinreißen. Die Angriffe linker Studenten auf den als zu ästhetisch und als zu wenig revolutionär empfundenen alten Herrn Adorno trugen zu seinen Herzbeschwerden und dem frühen Tod im August 1969 wohl nicht wenig bei. 

Seit bald darauf Pollock und Horkheimer verstorben waren und „Deutschlands rotes Jahrzehnt“ (Gerd Koenen) allmählich endete, leben die Erben vom Ruhm der legendenumwobenen Altvorderen. Als letzter bedeutender Repräsentant gilt der inzwischen 95jährige Habermas. Selbst seine akademischen Schüler sind zumeist schon im Ruhestandsalter.

Formell gesehen ist das Institut für Sozialforschung keineswegs Geschichte. Mehrere Einrichtungen streiten sich um die Nachfolge. Kürzlich wurde die Leitung der vielleicht wichtigsten unter diesen Organisationen von dem Soziologen Stephan Lessenich, der in Frankfurt lehrt, übernommen. Er tritt ein reiches Erbe an und kann darauf verweisen, daß seine Vorgänger stets darauf achteten, überkommene Gedankensysteme weiterzuentwickeln. Das Café Marx bleibt somit bis auf weiteres für rege Diskussionen geöffnet.

Foto: Max Horkheimer (vorne links) begrüßt Theodor W. Adorno, im Hintergrund rechts steht  Jürgen Habermas, 1964 in Heidelberg: Mehrere Einrichtungen streiten sich um die Nachfolge