In den USA rätseln sie darüber, wann der Ärger bei der Washington Post wirklich losging. Offen zutage getreten war er, als Sally Buzbee, die erste Frau an der Spitze der Redaktion, vor einigen Wochen kurz und schmerzlos ihren Rückzug verkündete. Danach sollte mit Matt Murray eine Interimslösung bis zu den Präsidentschaftswahlen Anfang November installiert werden. Anschließend werde Robert Winnett, derzeit stellvertretender Chefredakteur bei der britischen Telegraph Media Group, die Leitung der zentralen Redaktion übernehmen. Soweit der Plan, der allerdings schon Makulatur war, bevor er umgesetzt wurde. Denn seit Ende Juni steht fest, daß Winnett lieber in England bleibt.
Die Post ist die größte Tageszeitung in der Hauptstadt der Vereinigetn Staaten und hat als solche eine besondere Stellung. Vor mehr als zehn Jahren kaufte sie der Amazon-Gründer Jeff Bezos und sorgte damit für Aufsehen und Kritik an einer vermeintlich zu engen Verbindung zwischen Presse und Wirtschaft. Der milliardenschwere Investor greift von außen immer wieder in Personalentscheidungen ein und hat damit in der Vergangenheit nicht unbedingt das beste Händchen gehabt. Dabei begann alles so verheißungsvoll. Seit 2013 war Martin Baron Chefredakteur der Zeitung. Das Blatt, das in den siebziger Jahren den Watergate-Skandal und die Pentagon-Papiere enthüllt hatte, war zuvor zu einer Regionalzeitung geschrumpft. Baron sollte für frischen Wind sorgen, und das funktionierte auch gut.
Sollte die Chefredakteurin mit einem Umbau kaltgestellt werden?
Vor allem während der Präsidentschaft von Donald Trump. Die Post war nah dran, und insgesamt galt die Trump-Ära als eine gute für die Hauptstadt-Presse. Und das nicht etwa, weil die Post-Journalisten auf Kuschelkurs mit dem Präsidenten gingen. Im Gegenteil, man arbeitete sich aneinander ab, nicht selten gab es Prozesse und Widerrufsklagen. Der Auflage tat das gut.
Doch seit 2020 ging die Entwicklung nach unten. Die Washington Post verlor mehr als die Hälfte ihrer Leserschaft, schrieb massiv rote Zahlen und kommt unbeirrbar vergleichsweise altbacken daher. Der große Konkurrent, die New York Times, stellte sich mit der Ausweitung ihrer Lifestyle-Angebote, darunter Rätsel und Kochen sowie dem Kauf der Sportseite „The Athletic“ und dem Produkte-Tester „Wirecutter“ breiter auf und setzte Akzente mit der eigenen Podcast-Palette.
2021 zog sich Baron zurück, auf ihn folgte Sally Buzbee. Sie arbeitete früher als leitende Redakteurin für die Nachrichtenagentur Associated Press und galt als neues, modernes Gesicht. Mit ihrem Ausscheiden verkündete Herausgeber Will Lewis einen Umbau der Struktur. Danach soll die Redaktion in drei Bereiche aufgespalten werden. In einen Newsroom mit Fokus auf Social-Media- und Servicejournalismus, in die „Kernredaktion“ sowie Meinung. Unter der Führung Buzbees gewann die Washington Post mehrere Pulitzerpreise, allein drei in diesem Jahr. Sie soll sich nach Aussagen von Branchenkennern gegen die bereits länger geplante Umstrukturierung gewandt haben. In den USA ist es ein offenes Geheimnis, daß der Wind rauher wurde, seit Besitzer Bezos seinen Kumpel Lewis mit der Verlagsleitung betraut hatte, womit dieser die Nachfolge von Fred Ryan antrat, dem der Eigentümer ein schlechtes Krisenmanagement vorwarf. Ryan habe sich nicht auf das veränderte Geschäftsumfeld einlassen können.
Lewis, früherer Chefredakteur des britischen Telegraph sowie zuletzt Herausgeber des Wall Street Journal gilt als Profi und geschickter Medien-Geschäftsmann. Allerdings auch als einer, der sich sehr in die Belange der Redaktion einmischt. Kritiker sehen in ihm einen „Über-Chefredakteur“. Sein Plan sei es gewesen, die hausintern äußerst beliebte Buzbee auf neue Ressorts abzuschieben und die Gesamtverantwortung anders zu verlagern.
Es gibt auch häßliche Gerüchte, die andere Hintergründe vermuten und die sich auf die Vergangenheit Lewis’ beziehen. Dieser soll in seiner Zeit als Journalist beim Telegraph in fragwürdige Praktiken verwickelt gewesen sein. Jedenfalls beschuldigten die Anwälte des britischen Prinzen Harry, des Schauspielers Hugh Grant und anderer prominenter Persönlichkeiten ihn, aktiv an der Vertuschung der Rolle leitender Angestellter in mehreren Grenzübertretungen mitgewirkt zu haben, als er für das Verlagsimperium von Rupert Murdoch in London arbeitete.
Der „Murdoch-Skandal“ erschütterte vor rund eineinhalb Jahrzehnten die britische Politik und Medienwelt. Journalisten hatten Mitarbeiter von Politikern bestochen, teilweise „V-Leute“ eingeschleust und illegal Gespräche mitgeschnitten. In der Folge traten zahlreiche Minister zurück, doch die Prozesse ziehen sich teilweise bis heute. Und so war Buzbee willens, über neue Entwicklungen des Skandals zu berichten, auch mit der Konsequenz, daß der Name Lewis fällt. In den USA ist eine derartige Berichterstattung nicht einmal unüblich. Medien-Mogul Murdoch habe zudem seinerzeit angeordnet, seine Führungskräfte sollten ein Team bilden, das der Polizei bei der Aufklärung der Vorgänge hilft. An der Spitze sollte Lewis stehen. Doch von ihm behaupten bis heute mehrere Personen, er habe eher Beweise vernichtet als aufgeklärt.
Von der Vergangenheit im Ausland eingeholt
In diesem Zusammenhang fällt auch der Name Robert Winnett. Der sollte nach einer Vorlaufzeit an die Spitze der Post rücken. Denn nachdem Buzbee sich Lewis’ „Zensurwunsch“ widersetzte, habe dieser sie zum Abschuß freigegeben. Winnett gilt als langjähriger Gefolgsmann von Lewis, man kennt sich aus England. Und, o Wunder, Winnett soll ebenfalls seine Finger im Murdoch-Skandal gehabt haben, auch wenn sowohl er als auch Lewis behaupten, nur an der Aufarbeitung beteiligt gewesen zu sein.
Lewis agierte in den vergangenen Wochen zunehmend unglücklich. Ein Gespräch mit der New York Times wurde angeblich gegen seinen Willen veröffentlicht, worauf er sich als Opfer inszenierte. In den amerikanischen Medien brach daraufhin eine Debatte über vermeintlich unterschiedliche ethische Standards in der amerikanischen und der britischen Presse aus. In einer Mail an die Belegschaft bestritt Lewis einen Zusammenhang mit der Berichterstattung über seine England-Vergangenheit. Die Umstrukturierung der Redaktion habe ausschließlich finanzielle Gründe. Doch ein Sparprogramm mitten im Präsidentschaftswahlkampf, der einer renommierten Zeitung in aller Regel Aufmerksamkeit und Auflage beschert, ist ungewöhnlich – zumal die heißte Phase jetzt beginnt.
Weniger überraschend kam nun die Meldung, daß Winnett doch nicht zur Post kommt und stattdessen weiter stellvertretender Chefredakteur des Telegraph bleibt. Und so stellt sich die große Frage, wie lange es dauert, bis Besitzer Bezos das Vertrauen in seinen „Kumpel“ Lewis verliert. Angesichts der Krise könnte ein erneuter „Scoop“ (Knüller) – beispielsweise eine Enthüllung gegen Trump – von der schlechten Lage ablenken.