© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/24 / 12. Juli 2024

Zur Vorgeschichte der deutschen Remigrationsdebatte
Schwindende Mehrheiten
Werner Sohn

Nach der medial perfekt inszenierten Aufdeckung einer „Geheimkonferenz“ , auf der der österreichische Aktivist Martin Sellner angeblich Pläne zur massenhaften Vertreibung und Deportation von Ausländern vorstellte, wählte die bekannte Jury den Fachausdruck Remigration spontan zum „Unwort des Jahres 2023“ . Es kam zu wochenlangen Protestmärschen von Millionen aufgebrachter Bürger.

Im Zuge der allgemeinen Empörung wagte kaum jemand daran zu erinnern, daß dieser Begriff bis zur Wiedervereinigung und einige Jahre danach in der Gastarbeiter- und Ausländerdebatte eine Rolle spielte. Denn ein dauerhafter Verbleib von Arbeitsmigranten und ihren Familien war von den politisch Verantwortlichen, die die Anwerbung unterstützten, ausdrücklich nicht vorgesehen.

Ende der 1950er Jahre wurde der Arbeitskräftebedarf in der Bundesrepublik, insbesondere im Billiglohnsektor, zunehmend durch die Rekrutierung von Arbeitsmigranten gedeckt. Die Verträge zwischen den Betrieben und den Gastarbeitern galten in der Regel für ein Jahr. Die Bundesregierung machte das Rotationsprinzip zur Bedingung, so daß die Rückkehr auch für die Angeworbenen einen festen Bestandteil ihrer Lebensperspektive darstellte („Deutsch Marks in the head, shovel in the hands and Yugoslavia in the heart“ ). Eine soziale Integration erschien also überflüssig.

Die Rückkehrneigung vieler Gastarbeiter erforderte allerdings immer neue Anwerbeaktionen und zwischenstaatliche Abkommen, schließlich über Europa hinaus auch mit Marokko, Tunesien und der Türkei. 1964 traf der millionste Gastarbeiter in Deutschland ein. Im Rahmen einer Willkommensfeier spielte eine Werkskapelle „Auf in den Kampf, Torero“ . Der portugiesische Zimmermann, auf den das Los gefallen war, erhielt als Geschenk ein Moped.

Spätestens in der Rezession von 1966/67 zeigten sich negative Seiten der bisherigen Praxis. Qualifizierte Ausländer verließen nach Ablauf ihrer Verträge das Gastland. Arbeitsplätze wurden knapp, und in manchen Branchen entstand das neue, aber im Grunde nicht überraschende Phänomen einer Konkurrenzsituation zwischen deutschen und ausländischen Arbeitssuchenden. Da sich die Wirtschaft rasch erholte, nahm auch die Ausländerbeschäftigung 1968 wieder Fahrt auf, ohne daß die Bundesregierung in den folgenden Jahren Vorkehrungen traf, um einer Zuspitzung der Beschäftigungslage im Falle weiterer Wirtschaftskrisen vorzubeugen.

Die Industrie setzte ihre Interessen mittels weiterer Anwerbungsaktionen sowie Vertragsverlängerungen durch. Anfang 1973, also schon vor der Energiekrise infolge eines erneuten Nahost-Krieges, versuchte der SPD-Arbeitsminister Walter Arendt, den Zustrom neuer Gastarbeiter und ihrer Familien einzudämmen. Aufgrund der prekären wirtschaftlichen Lage wurde der unbeabsichtigte paradoxe Effekt des 1973 erlassenen Anwerbestopps, nämlich ein beschleunigter Nachzug von Familienangehörigen der im Land bleibenden Gastarbeiter, schließlich auch von Teilen der Sozialdemokratie als soziales Problem anerkannt und löste eine Debatte über Remigration und Obergrenzen aus. Die oppositionelle CDU versprach, im Falle der Regierungsübernahme die Rückkehr von Arbeitsmigranten in ihre Heimatländer durch wirtschaftliche Anreize zu fördern und in größerem Maßstab auch durchzusetzen.

1983 brachte das Kabinett Kohl II das lange angekündigte „Gesetz zur Förderung der Rückkehrentscheidung“  auf den Weg. Die damit verbundenen Anreize führten bei türkischen Gastarbeitern kurzfristig zu einem Anstieg der Remigrationsrate um das Siebenfache. Ab Mitte der 1980er Jahre stieg die Zahl der Zuzüge aber wieder über die der Fortzüge. Die Wirkung des Gesetzes verpuffte rasch. Die Rhetorik der CDU-geführten Bundesregierung, die sich alsbald mit einer neuen Welle der Zuwanderung vor allem durch Asylbewerber konfrontiert sah, blieb vorerst. Helmut Kohl wurde von der linken Opposition als „Ausländer raus!“-Kanzler beschimpft.

Aber „die Ausländer“  gingen nicht, sondern sie kamen – auf neuen Wegen. 1992 stellten zwei Drittel aller Asylsuchenden in Westeuropa ihre Anträge im wiedervereinigten Deutschland (438.000). Da sie nicht arbeiten durften, schonten sie optisch die Arbeitslosenstatistik. Gleichwohl war eine gewisse „Belastung des sozialen Netzes“ selbst durch die SPD nicht völlig zu bestreiten, so daß man sich zum sogenannten Asylkompromiß die Hände reichte.

Seit 1975 wurde Arbeitslosigkeit unter den Gastarbeitern eine relevante Größe mit steilen Anstiegen zwischen 1980 und 1985 sowie 1992 und 1996. Die Arbeitslosenquote türkischer Arbeitnehmer verdoppelte sich zwischen 1990 und 1996 auf 22 Prozent. Fremdenfeindliche Anschläge und Morde erschütterten das Land.

Wie sah nun die Bevölkerung in dieser sich zuspitzenden Debatte das Problem der Remigration? Wie sieht sie es heute? Vereinzelte Umfragen liefern immer nur Momentaufnahmen, die zudem durch besondere Ereignisse verzerrt sein können. Entscheidend für eine Beurteilung sind Vergleiche mit mehreren Meßzeitpunkten, besser auf Grundlage einer langen Zeitreihe.

Die Gründung des Mannheimer Instituts für Meinungsforschung schuf die Voraussetzung, durch breit angelegte regelmäßige Bevölkerungsumfragen (ALLBUS) seit 1980 Meinungen und Einstellungen des Staatsvolkes zu ganz verschiedenen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens auf den demoskopischen Seziertisch zu legen. Der Bürger geriet mehr und mehr unter eine sozialwissenschaftlich umrahmte Dauerbeobachtung. Hierzu gehörte auch der Themenkomplex „Einstellungen zu Gastarbeitern“. Über vereinzelte Impressionen hinaus sollten charakteristische Merkmale in der zeitlichen Entwicklung erfaßt werden.

Mental bewegten sich die Deutschen damals in der Gastarbeiterfrage zwischen Conny Froboess’ „Zwei kleine Italiener“ (1962) und Franz-Josef Degenhardts „Tonio Schiavo“ (1966). Während die einen von einer Rückkehr zu den Freundinnen im sonnigen Neapel träumten, gingen dem ausgebeuteten Proletarier Schiavo beim Richtfest in Herne die Gäule durch und er rammte dem ausländerfeindlichen Polier ein Messer in den Bauch. Daraufhin warfen ihn „vier andere“  – vermutlich Deutsche – vom Dach hinunter, so daß er haarscharf neben zehn gerade eintreffenden armseligen Gestalten aus dem sonnigen Süden aufschlug. Der Kommentar eines kommunistischen Liedermachers zum Rotationsprinzip.

Der ALLBUS-Beirat, der die Einstellungsfragen zu Gastarbeitern lange drehte und wendete, verband zunächst wohl nicht die Absicht, eine generell ablehnende oder gar feindselige Haltung der Deutschen à la Degenhardt an den Pranger zu stellen. Aber auch Conny Froboess’ weltweit erfolgreicher Megahit konnte ihn nicht milde stimmen.

Erst mit der Befragungsrunde 1996 wurden auch positive Statements („Ausländer tragen zur Sicherung der Renten bei“ und andere) eingesetzt, die zeigten, daß die Deutschen ein durchaus differenziertes Verhältnis zu den sie umgebenden Nichtdeutschen hatten. Durch die Auswahl von vier Aussagen (Items) mit ausschließlich negativer Tendenz (Anpassung, Remigration, Verbot politischer Betätigung, Forderung nach Endogamie) lag der Reiz für bestätigende Reaktionen jedoch auf der Hand.

Darüber hinaus überließ man einer drängenden kritischen Sozialwissenschaft das Feld, die mit Hilfe insinuierter deutscher Ausländerfeindlichkeit ihren inneren Demokratiefeind Nummer eins modellieren konnte. Für die kritische Weltsicht bildete bereits der bescheiden bis possierlich klingende Anspruch auf Anpassung des fremden Lebensstils („ein bißchen besser an den der Deutschen“, ab 2016 dann eine Nuance schärfer: „besser an den der Deutschen“ ) eine Handhabe für die unterstellte allgemeine xenophobe Tendenz. In den 1980er Jahren stimmten etwa zwei Drittel der Befragten, mit stark abfallendem Trend bis 1994, dieser Aufforderung an Gastarbeiter zu (grüne Linie im Diagramm).

Schließlich erkannte man bei ALLBUS, daß der Gastarbeiter-Begriff nicht mehr recht zu passen schien. Überdies sah man in ihm plötzlich eine Diskriminierung. In der Fachliteratur steht das Wort seitdem nur noch in Anführungszeichen. Die seit 1996 mit dem Austausch der Gastarbeiter durch „die in Deutschland lebenden Ausländer“  abrupt ansteigende Zustimmung zum Anpassungsitem widerlegt allerdings die Auffassung, die Befragten hätten noch das gleiche Objekt im Auge wie in den 15 Jahren zuvor.

Es dauerte lange, bis man in Mannheim den nicht ganz unwichtigen Aspekt erörterte, was die beforschten Landsleute wohl mit dem Begriff Ausländer verbinden würden. Im Grunde war aber die dann erst im ALLBUS 2016 ergänzend gestellte Frage („An wen denken Sie, wenn Sie das Wort Ausländer hören?“) durch die kritische Sozialwissenschaft unerwünscht, da sich hätte herausstellen können, daß es gar keine generalisierbare Ausländerfeindlichkeit in der deutschen Bevölkerung gab und der etablierte Begriff zwar als ideologische Parole Beachtung forderte, wissenschaftlich aber eine ziemliche Luftnummer blieb.

Mit dem zweiten Item des Themas „Einstellung gegenüber Ausländern“ enthält der ALLBUS als eine der wenigen repräsentativen Befragungen und sicher als einzige über vierzig Jahre hinweg eine Frage zur Remigration. Die Formulierung rührt, wie hier dargestellt, aus der Zeit eines bei vielen längst in Vergessenheit geratenen Rotationsprinzips für angeworbene ausländische Arbeitskräfte. In ihrer derben Schlichtheit hat sie für den kritischen Sozialforscher bis heute ihre Faszination nicht verloren, so daß selbst die Autoren der berühmten Leipziger Mitte- beziehungsweise Autoritarismus-Studien, die den Rechtsextremismus akribisch durchleuchtet haben, nicht darauf verzichten wollten (rote Säulenreihe).

Da die Leipziger Medizin-Professoren und das Mannheimer ALLBUS-Team exakt das gleiche Item zur Rückkehr von Ausländern verwenden, lassen sich die beiden Zeitreihen miteinander vergleichen. Nach ALLBUS stellen die Befürworter der Remigration nur in der ersten Befragungswelle 1980 die Mehrheit. Bis 1994 halbiert sich die Zustimmung. Ab dann ist es etwa jeder vierte Deutsche, der Ausländer zur Rückkehr bitten/auffordern würde, „wenn Arbeitsplätze knapp werden“ . Und weitere zehn Jahre später bilden die Anhänger der Remigration nur noch eine kleine Minderheit.

Anders herum ausgedrückt: Etwa 70 Prozent der Befragten sind gegen eine wirtschaftlich begründete Rückkehr von Nichtdeutschen in ihre Herkunftsländer. Betrachtet man die Zahlenreihe der Autoritarismus-Studien, so erstaunt das viel höhere Niveau der Zustimmungsraten. Wie das bei nahezu gleichzeitiger repräsentativer Erhebung mit gleicher Methode (persönliche Interviews) und dem textgleichen Item zu erklären ist, mögen die Fachleute dereinst einmal klären. Wir vermuten vorläufig, daß vielleicht das „erkenntnisleitende Interesse“ dabei einen gewissen Einfluß ausübte. Immerhin erkennt man auch in der Leipziger Reihe zwischen 2002 und 2022 einen leicht abfallenden Trend, so daß heute nach dieser Datenquelle nur noch jeder fünfte Deutsche als Remigrationsbefürworter eingestuft werden kann.

Nun könnte man argumentieren, daß es sich bei diesem Statement – Rückkehr, wenn Arbeitsplätze knapp werden – um einen sehr spezifischen Remigrationsaspekt handelt. Zweifellos ist jedoch die ökonomische Perspektive für eine Zustimmung von größerer Bedeutung als beispielsweise die kulturelle; Stichwort Überfremdung. Nach dieser wird für die Leipziger Spurenanalyse der Verbreitung rechtsextremistischen Gedankengutes auch gefragt. Denn wer sich durch viele Fremde überfremdet fühlt, gerät in dieser Wissenschaft in den Verdacht, für den Rechtsextremismus anfällig zu sein. Er bewegt sich in einer „gefährlichen“  Grauzone, beinahe schon im Dunkelfeld.

Immerhin stimmen Stand 2022 38 Prozent der Befragten dem Item „Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land“  zu. 29 Prozent sind demnach für einen Einwanderungsstopp speziell für Angehörige islamischer Bekenntnisse. Das entspricht gerade einmal dem Mittelwert der Leipziger Pro-Rückkehr-Zeitreihe 2020 bis 2022. Selbst gegenüber den als fremd wahrgenommenen Moslems läßt sich daraus keine mehrheitsfähige Zustimmung für Remigration ableiten. Auch jenseits der Aufmärsche von Remigrationsgegnern sieht es also für Sellners Gedankenspiele schlecht aus.



Werner Sohn studierte Sozialwissenschaften, Philosophie und Germanistik in Gießen. Zwischen 1986 und 2017 war er Angestellter der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden und zeitweise für das Bundes-kriminalamt tätig.