Wenn ein 87jähriger autobiographischer Autor wie der einstige SED-Politiker Egon Krenz eine Lebensgeschichte aufschreibt, müßte er eigentlich darauf achten, daß seine Interpretation der vierzig DDR-Jahre nicht dem widerspricht, was die Nachwelt bis heute, nach Öffnung der Archive und durch zahlreiche Zeitzeugenberichte, über diesen 1989/90 untergegangenen Staat erfahren hat. Egon Krenz aber, der jetzt den zweiten Band seiner „Erinnerungen“ veröffentlicht hat, scheint das alles nicht zu kümmern. Er schreibt noch immer, fast 35 Jahre nach dem Mauerfall in Berlin, aus der Sicht der „herrschenden Klasse“, die gnadenlos die mehrmals aufbegehrende DDR-Bevölkerung mit Terror niederhielt und 28 Jahre lang Flüchtlinge an der innerdeutschen Grenze zu Hunderten erschießen ließ. Und auf keiner Seite in diesem Buch werden die Ost-Berliner Kommunisten für das ununterbrochene Scheitern des DDR-Sozialismus verantwortlich gemacht, sondern allein der sich dauernd einmischende „Klassenfeind“ in Westdeutschland.
Sätze klingen wie Hohn auf die Erfahrungen der DDR-Bürger
Der heute in Dierhagen/Ostsee lebende SED-Rentner Egon Krenz, 1937 in Kolberg/Hinterpommern geboren und seit 1944 in Damgarten/Vorpommern aufgewachsen, hat bis 1989 eine beispiellose Karriere durchlaufen. Vom FDJ-Mitglied seit 1953 und SED-Mitglied seit 1955 schaffte er es bis zum Mitglied 1973 im ZK der SED, dem Parteiparlament, im Staatsrat 1981/84 und im SED-Politbüro, der Parteiregierung, 1983/89. Der krönende Abschluß seiner Laufbahn aber war der 18. Oktober 1989, als er Erich Honecker gestürzt hatte und zum SED-Generalsekretär ernannt wurde. Sieben Wochen später, am 6. Dezember 1989, wurde er aller seiner Ämter enthoben und schließlich auch aus der SED ausgeschlossen.
Der Autobiograph Egon Krenz, der dem SED-Staat alles verdankt wie öffentliches Ansehen und ungeheure Machtfülle, versucht in seinem in 33 Kurzkapitel gegliederten Buch die DDR-Geschichte schönzureden in der Hoffnung, fast 35 Jahre nach dem Einsturz der Berliner Mauer wären alle Zeitzeugen verstorben, die ihn widerlegen könnten. Daß diese Hoffnung getrogen hat, zeigt schon die zornige Reaktion Eberhard Aurichs, seines Nachfolgers 1983/89 in der FDJ-Leitung, der am 12. Februar dieses Jahres auf einer ganzen Seite der alten SED-Zeitung Neues Deutschland unter dem Titel „Ein Buch voller Widersprüche“ die falsche Sicht des gestürzten Politikers auf die DDR-Geschichte widerlegt.
Was Egon Krenz seinen Lesern mit diesen Erinnerungen bietet, ist ein Märchenbuch über einen Staat, den es nie gab. Um seine „parteiliche“ Sicht auf den untergegangenen „Arbeiter- und Bauernstaat“ zu untermauern, arbeitet er mit Weglassungen, Mißdeutungen und Fehleinschätzungen, wobei die DDR-Führung, sollte sie tatsächlich einmal Fehler begangen haben, immer entschuldigt und reingewaschen wird, während der „imperialistische Klassenfeind“ in Westdeutschland unermüdlich daran arbeitete, diesen Staat auszulöschen.
Nehmen wir zum Beispiel das sechste Kapitel „Ein Pfarrer, ein Sänger und ein Manifest“, wo es um den Pfarrer Oskar Brüsewitz und den 1976 ausgebürgerten Liedermacher Wolf Biermann geht. Obwohl der „Bund der Evangelischen Kirchen“ in der DDR, so der Chronist Egon Krenz, keine Pressemitteilung über die Selbstverbrennung des Pfarrers am 18. August 1976 in Zeitz habe veröffentlichen wollen, habe jemand aus Kirchenkreisen die „Schreihälse vom westdeutschen Fernsehen“ (Erich Honecker) verständigt. Ohne den von den „Bonner Revanchisten“ betriebenen „Kalten Krieg“ hätte „die ganze Angelegenheit erledigt sein können“. Wahrscheinlich hätten viele solcher „Angelegenheiten“ klammheimlich „erledigt sein können“, wenn nicht westdeutsche Journalisten davon erfahren und darüber geschrieben hätten. Nicht zuletzt deshalb ist am 24. November 1961 in Salzgitter die „Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen“ gegründet worden, damit DDR-Verbrechen nicht ungesühnt blieben.
Das utopische Bild, das Egon Krenz vom DDR-Sozialismus zeichnet, gipfelt dann in solchen Sätzen, die wie Hohn auf die tagtäglichen Erfahrungen der Bevölkerung wirken mußten: „Der Sozialismus war trotz aller Unvollkommenheiten die Freiheit von Ausbeutung, von Unterdrückung und Erniedrigung des Volkes, von Arbeitslosigkeit, von sozialer und geistiger Verelendung. (...) Es gab ein leistungsstarkes Gesundheitswesen. Die Theater und Kulturstätten standen allen weit offen.“ Anscheinend hat der Autor dieser Sätze nie von der Ausbürgerung Dutzender DDR-Schriftsteller nach dem 16. November 1976 gehört!
Neben allen Lobgesängen gibt Krenz aber auch, selten genug, Einblicke in das Alltagsleben der DDR-Bürger, zum Beispiel, daß es tatsächlich, wie immer schon vermutet, den Einsatz von Dopingmitteln zur Leistungssteigerung von DDR-Sportlern gab.
Aber auch aus dem sozialistischen Wirtschaftsleben gibt es Merkwürdiges zu berichten. Im Kapitel „Kartoffeln für Leningrad“ teilt Krenz mit, daß der Moskauer „Bruderstaat“ 1985 eine schlechte Kartoffelernte gehabt und deshalb den Genossen Erich Honecker um die schnelle Lieferung von einer Million Tonnen Kartoffeln gebeten habe. Klassenbewußt lieferten die DDR-Exporteure in kürzester Frist, aber im Leningrader Hafen gab es nicht genug Liegeplätze für die ankommenden DDR-Schiffe, und es gab Nachtfröste im Oktober 1985, so daß die Kartoffeln tonnenweise erfroren: „Bestraft wurde für die Vergeudung niemand!“ (Egon Krenz). Überall, so erinnern sich Eingeweihte heute noch, herrschte Schlamperei in der sozialistischen Wirtschaft! Obwohl der als „Kommunistenfresser“ geschmähte CSU-Politiker Franz Josef Strauß 1983 überlebenswichtige zwei Milliarden D-Mark in die DDR transferierte und der Freikauf politischer Häftlinge 3,4 Milliarden D-Mark einbrachte, ist der SED-Staat kollabiert. Und das war gut so!
Dr. Jörg Bernhard Bilke war Chefredakteur der „Kulturpolitischen Korrespondenz“ der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat. 1961 wurde der West-Berliner Literaturwissenschaftler auf der Leipziger Buchmesse verhaftet und saß wegen „Staatsgefährdender Propaganda und Hetze“ drei Jahre in DDR-Haft.
Egon Krenz: Gestaltung und Veränderung. Erinnerungen. Verlag Edition Ost, Berlin 2023, gebunden, 448 Seiten, 26 Euro