Am 23. Juni, nach dem EM-Spiel Deutschland–Schweiz, startete um 23.54 Uhr in Frankfurt ein Airbus der Flugbereitschaft, um Annalena Baerbock nach Luxemburg zu bringen. Eine Flugreise für nur 184 Kilometer Luftlinie? „Mit dem TGV braucht man 3,5 Stunden für die Strecke“, behauptete die CDU-Bundestagsabgeordnete Serap Güler. „Ist das eigentlich noch Doppelmoral oder schon Dekadenz?“ Nein, eine Direktverbindung mit dem französischen Schnellzug gibt es nicht. Der letzte ICE fuhr schon um 21.02 Uhr nach Saarbrücken. Von dort ginge es erst um 5.45 Uhr per Bus nach Luxemburg.
Der erste IC fuhr um 3.13 Uhr von Frankfurt nach Koblenz, nach einstündigem Aufenthalt wäre es mit dem RE 11 nach Luxemburg weitergegangen. Da hätte die Außenministerin – trotz Maskenbildnerin – bei Ankunft um 8.23 Uhr und auf dem EU-Ministertreffen wohl „wie ein Totengräber“ ausgesehen. Mit dem Dienstwagen wären es 270 Kilometer und 150 Minuten Fahrzeit gewesen – 35 Minuten Flug waren ihrer Work-Life-Balance zuträglicher. Die Doppelmoral ist auch nicht die Ausnahmegenehmigung vom Nachtverbot zwischen 23 und 5 Uhr: 2011 führte Schwarz-Gelb die Luftverkehrsabgabe ein – die Ampel erhöhte sie im Mai auf bis zu 70,83 Euro pro Passagier.
Das regierungsnahe Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Wochenbericht 27/24) liefert nun weitere „Expertise“, um dem Volk den Wohlstand zu rauben: Die Ticketsteuer reiche nicht aus. Notwendig sei ein Verbot von Kurzstreckenflügen, denn während des Start- und Landevorgangs würden die meisten Treibhausgase emittiert. Und aus „klimapolitischer Sicht wäre es noch wichtiger, die Zahl der Langstreckenflüge durch internationale Abkommen zu begrenzen“ – sprich: Sonnentanken nicht mehr für Facharbeiter, sondern nur für Besserverdiener. Dabei ist der Flugverkehr laut der Emissions Database for Global Atmospheric Research (Edgar) nur für 0,79 Prozent des Treibhausgasausstoßes (CO₂, Methan, Stickoxide) verantwortlich.
China verursacht laut den EU-Zahlen 29,2 Prozent, die USA 11,2 Prozent – Deutschland liegt mit 1,46 Prozent hinter dem Iran, Mexiko und Saudi-Arabien. Die 27 EU-Staaten kommen auf 6,7 Prozent. Wie ein Politiker reist oder wohin es im Urlaub geht, ist ein Fall für die Rechnungshöfe bzw. der privaten Präferenzen – keine „Klimafrage“.
Bei den Emissionen pro Kopf (9,5 Tonnen CO₂-Äquivalent jährlich) liegen die 84,7 Millionen Einwohner Deutschlands noch weiter hinten: Katar und die einst deutschen Palau-Inseln, wo sich die Außenministerin 2022 barfuß am Strand ablichten ließ, kommen auf 67,4 bzw. 61,7 Tonnen, Russen und Amerikaner auf jeweils 18 Tonnen, ein Iraner und Chinese auf je elf Tonnen, und ein Südafrikaner hat mit 8,9 Tonnen „CO₂-Fußabdruck“ bald „deutsches Niveau“ erreicht. Und laut UN-Prognosen könnte sich die Weltbevölkerung bis 2050 von acht auf über zehn Milliarden erhöhen.
Dennoch sollen sich die Deutschen laut DIW sogar bei der Ernährung einschränken: „Im Vergleich zur Viehzucht und der Futtermittelproduktion haben pflanzliche Lebensmittel einen deutlich geringeren Treibhausgasfußabdruck. Die Häufigkeit des Verzehrs von tierischen Produkten ist damit ein Faktor für die individuellen Emissionen.“ Das erklärt vielleicht die EU-Zahl, daß ein armer Mongole, der traditionell Tierprodukte mag, einen 19,1-Tonnen-Fußabdruck hat und der des reichen Japaners nur 9,4 Tonnen wiegt. „Vielleicht einmal pro Woche auf Fleisch verzichten“, verlangt die DIW-Ökonomin Merve Küçük. Wer kein Fleisch ißt, habe im Ernährungsbereich nur 1,2 Tonnen Fußabdruck, während es bei Fleischkonsum zwischen 1,6 und 2,1 Tonnen seien.
Das ist ein Argument für den Vegetarier und grünen Agrarminister Cem Özdemir, der die Mehrwertsteuer für Fleisch – angeblich „für den Umbau der Ställe“ – erhöhen will. In der Türkei (8,1 Tonnen Fußabdruck), wo Küçük ihren Master of Arts machte, dürfte das auf wenig Zustimmung stoßen. In Australien (22 Tonnen), wo sie promovierte, dürfte der CO₂-Fußabdruck nicht den Steaks, sondern der Weite des Landes, der Rohstoffgewinnung und den Klimaanlagen bei großzügigen Wohnverhältnissen geschuldet sein. Darauf haben die Deutschen keinen Einfluß – dennoch soll auch in die deutschen Wohnverhältnisse massiv eingegriffen werden: „Beim Wohnen ist es vor allem die Anzahl der im Haushalt lebenden Personen, die einen großen Unterschied macht“, argumentiert Küçük.
„Durch gemeinsames Wohnen lassen sich viele Emissionen sparen.“ Der zuwanderungsbedingte Wohnungsneubau ist daher wohl verzichtbar, denn „durch eine effizientere Nutzung des vorhandenen Wohnraums“ könne es „große Einsparungen im Gebäudesektor geben“. Sprich: Warum soll ein Rentnerehepaar allein im Einfamilienhaus oder eine Witwe eine ganze Etage bewohnen? Die Emissionseinsparung ließe „sich erreichen, wenn der Wohnungstausch vereinfacht würde“, denn 2,9 Tonnen des deutschen CO₂-Fußabdrucks seien durch „die Nutzung von Elektrizität im häuslichen Umfeld, das Heizen und die Warmwasseraufbereitung verursacht“. Während ein Vierpersonenhaushalt pro Kopf nur 1,7 Tonnen CO₂ verursache, seien es in einem Einpersonenhaushalt mehr als vier Tonnen. Und jeder Quadratmeter Wohnfläche, der pro Person mehr zur Verfügung steht, bedeute 22 Kilogramm mehr Emissionen pro Kopf.
„Durch gemeinsames Wohnen lassen sich Emissionen einsparen“
Rentner raus, Großfamilie oder Studentenkommune rein – das ist keine neue Erfindung von Küçük und ihrer Studienmitautorin Sandra Bohmann vom Soziooekonomischen Panel (SOEP) des DIW. Das forderte das Umweltbundesamt (UBA) schon vor fünf Jahren: Durch „Mehr-Generationen-Wohnen und gemeinschaftliches Wohnen im Alter, Wohnungstauschbörsen sowie den Umbau von Bestandswohnungen in kleinere Wohneinheiten auch in ländlicheren Regionen“ sinke die Pro-Kopf-Wohnfläche.
Das UBA-Papier 36/19 „Climate Change – Wege in eine ressourcenschonende Treibhausgasneutralität“ verteufelte auch schon Flugreisen – nur der DIW-Sozialneid fehlte: Das Fliegen sei „einer der Hauptgründe, warum Menschen aus Haushalten mit höheren Einkommen einen doppelt so großen Fußabdruck haben wie diejenigen mit niedrigem Einkommen“, konstatierte Bohmann. „Eine einzige Langstreckenflugreise führt zu mehr Emissionen pro Kopf als Wohnen und Ernährung in einem ganzen Jahr zusammen.“ Doch Fliegen gehört nicht nur in Australien und den USA zum Alltag.
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Grafiken: siehe PDF Ausgabe Globale Treibhausgas-Emissionen (CO2, Methan, Stickoxide)