Die Frau ist mit Bedacht ausgewählt. Sie ist hübsch, freundlich und besitzt Fingerspitzengefühl. Sie macht ihren Job gut. Dabei ist er einer der undankbarsten, den man sich bei einer großen deutschen Bank vorstellen kann: Sie managt den Flaschenhals der Großstadtfiliale. Also jene Stelle, die jeder Kunde passieren muß, bevor er entweder fortgeschickt oder erkoren wird, in der Warteinsel Platz zu nehmen.
Die Warteschlange besteht aus einem Dutzend Personen. An der Spitze zwei Männer, die ich als Inder einordne. Diese werden nach kurzem Dialog an zwei Selbstbedienungsterminals verwiesen. Eine alte Dame kann den Automaten nicht bedienen, ihr wird der Lehrling zugewiesen. Der Afrikaner hat seinen Ausweis vergessen und wird weggeschickt. Komplizierter ist der Fall des Mannes, der für seine Tochter eine Kreditkarte bestellt und bisher nur per Post die Pin erhalten hat, aber die Karte selbst nicht.
Die Bankmitarbeiterin starrt in ihren Computer, hebt dann den Kopf und fragt: „Sind Sie sicher?“ Tatsächlich räumt der Kunde ein, geschieden zu sein und die Tochter wohne bei der Ex. Vielleicht sei die Karte bei der angekommen. Das Konto des nächsten ist gesperrt, erfährt die Wartegemeinschaft, die gemeinsam mit dem Betroffenen rätselt, warum.
Eine Frau möchte 1,2 Millionen anlegen und meint, sich dann doch wohl nicht anstellen zu müssen.
Bankgeheimnisse und Diskretion gibt es im Flaschenhals nicht. Das bekommt auch eine Kundin zu spüren, die nach kurzem Warten ausschert und einfach auf einen Mitarbeiter zuläuft. Ich sitze da schon im Wartebereich und bekomme so den Kurzdialog mit. 1,2 Millionen wolle sie anlegen, da müsse sie sich doch nicht anstellen. „Doch“, meint der Mann ungerührt und zeigt zur Tür.
Ich bin sprachlos – vor Begeisterung. Hier scheinen alle Kunden gleich zu sein. Aber da eilt schon ein anderer Bankmitarbeiter zu der Frau, die sich wieder in die Warteschlange eingereiht hat, und bittet sie zu seinem Arbeitsplatz.
Das allgemeine Murren ermutigt mich, aufzustehen und laut zu fragen, warum diese Kundin bevorzugt werde. Ob das daran liege, daß die Dame 1,2 Millionen anlegen wolle – aber vielleicht wolle ich ja viel mehr Geld anlegen, gefragt habe ich ja noch niemand und ich warte schon zwanzig Minuten. Umgehend bekomme ich auch einen Mitarbeiter, obwohl ich noch lange nicht drangewesen wäre.
Privilegien aller Art sind das Grab der Freiheit und Gerechtigkeit.
Johann Gottfried Seume (1763–1810)