© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30/24 / 19. Juli 2024

„Kein Friede für das Reich“
Interview: Welche Chancen hatte die Erhebung vom 20. Juli 1944 tatsächlich? Und wie vorbildlich waren die Männer des militärischen Widerstands gegen Hitler? Der Militärhistoriker Frank Wernitz hat seine Zweifel
Moritz Schwarz

Herr Dr. Wernitz, Verteidigungsminister Pistorius sagt, der 20. Juli habe ein Zeichen gesetzt, „daß es da auch noch ein anderes Deutschland gab“. Stimmt das?

Frank Wernitz: Das ist sicher nicht verkehrt. Allerdings hege ich nach der Auseinandersetzung mit dem 20. Juli im Rahmen meiner Arbeit über das Verhältnis von Wehrmacht und Waffen-SS große Zweifel, ob der Plan der Attentäter, nicht nur das NS-Regime zu beseitigen und den Krieg zu beenden, sondern gleichzeitig auch die Armee und den Bestand des Reiches zu erhalten, aufgegangen wäre.

Warum? 

Wernitz: Churchill und US-Präsident Roosevelt hatten bereits 1943 als vorrangiges Kriegsziel die bedingungslose Kapitulation Deutschlands beschlossen. Es hätte also wohl auch gegenüber einem Reich, das sich von Hitler befreit und einen Entwurf für einen wie auch immer ausgestalteten Rechtsstaat vorgelegt hätte, keinen Verhandlungsfrieden gegeben. Auch wäre Stalin sicherlich nicht an Gesprächen mit einer Regierung interessiert gewesen, die nicht ausschließen wollte, den Krieg nur im Westen zu beenden. 

War also die Erhebung vom 20. Juli im Grunde von Beginn an sinnlos? 

Wernitz: Aus moralischer Sicht ein ganz klares Nein, da durch den gewaltsam erzwungenen Regierungswechsel unter Führung des dann neuen Reichskanzlers Carl Friedrich Goerdeler – ein deutschnationaler Politiker aus der Weimarer Zeit – vielleicht nicht nur etliche Städte, wie etwa Dresden, vor der Vernichtung bewahrt, sondern auch zahllose Opfer hätten vermieden werden können: So verlor allein mehr als die Hälfte der sechs Millionen deutschen Kriegstoten erst nach dem 20. Juli 1944 ihr Leben. Auch der furchtbare Holocaust hätte damit früher sein Ende gefunden. Allerdings hegten schon die Putschisten Zweifel an einer einlenkenden Haltung der Alliierten. Deshalb resignierten einige Verschwörer auch und meinten, es sei besser, das Dritte Reich führe sich selbst ad absurdum. Dagegen äußerte Generalmajor Henning von Tresckow – neben Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg der entscheidende Kopf hinter dem Aufstand – wenige Tage vor dem 20. Juli: „Das Attentat muß erfolgen, coûte que coûte (um jeden Preis). Sollte es nicht gelingen, muß trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat.“  

Was bedeutet das?

Wernitz: Daß angesichts der verzweifelten Lage ein Teil der Verschwörer in Uniform sich am Ende aller politischen und militärischen Möglichkeiten und damit nun vor allem aus ethisch-moralischen Gründen zum Handeln berufen sah. So wird Stauffenbergs Bruder Berthold der Satz zugeschrieben, das Furchtbarste sei, zu wissen, daß der Putsch nicht gelingen könne, man aber dennoch für das Land und künftige Generationen zur Tat schreiten müsse. Ähnlich argumentierte Stauffenberg selbst, der zum Attentat drängte, obwohl ihnen allen bewußt zu sein habe, damit als Verräter in die deutsche Geschichte einzugehen. Unterließe man die Tat jedoch, sei man Verräter an seinem Gewissen. Von Tresckow brachte diese Haltung damit auf den Punkt, daß der sittliche Wert eines Menschen erst dort beginne, wo er bereit sei, für seine Überzeugung das Leben zu lassen: Worte Angehöriger adeliger Familien, die über Jahrhunderte Offiziere stellten und von ihrer traditionellen Führungsrolle auch in der Gegenwart zutiefst überzeugt waren. 

Wohl wissend, daß sie damit den Tag wahrscheinlich nicht überleben würden, schritten Stauffenberg und die Männer um ihn gleichwohl zur Tat. Heute vermuten manche jedoch, bei einem Erfolg hätte der 20. Juli zum Bürgerkrieg zwischen Wehrmacht und SS geführt. Ist das plausibel und wie wäre der ausgegangen?

Wernitz: Im Sommer 1944 zählte das Heer 6,5 Millionen Soldaten, wobei über zwei Millionen als Angehörige des Ersatzheeres im Heimatkriegsgebiet standen. Die Gesamtstärke der Waffen-SS betrug aber nur 594.443 Mann. Doch nicht nur diese Zahlen sprechen gegen ein solches Szenario, sondern auch, daß das Reich in einem Existenzkampf stand, der dafür eigentlich keinen Spielraum ließ. 

Eigentlicher Punkt war nicht das Hitler-Attentat, sondern in der Verwirrung danach einen Aufstand der Wehrmacht gegen NSDAP und SS auszulösen und sie zu entmachten. Doch hätte die SS, Kriegslage hin oder her, das wirklich widerstandslos mit sich machen lassen? 

Wernitz: Ein Ringen um die Oberhand zwischen SS und Wehrmacht hätte zwangsläufig alle Kriegsfronten geschwächt, was weder im Interesse der Wehrmacht noch der SS sein konnte. Gemeinsames Ziel wäre vielmehr eine Stabilisierung der militärischen Lage gewesen, um wieder politischen Handlungsspielraum zu gewinnen. Zudem bin ich überzeugt, daß es in der bewaffneten und wohl auch in der übrigen SS Berührungspunkte zu den Putschisten gab. 

Wie bitte? Die SS galt doch als Prätorianergarde des Nationalsozialismus!

Wernitz: Ja, doch war die multinationale Waffen-SS des Jahres 1944 nicht mehr zu vergleichen mit der mono-nationalen, auf freiwilliger Basis errichteten und politisch zuverlässigen SS-Verfügungstruppe von 1937/38, aus der sie sich entwickelte: Allein durch den gemeinsamen Fronteinsatz bestand eine große Affinität zum Heer, und ich kann mir nicht vorstellen, daß sich die SS-Feldkommandeure gegen ihre Wehrmachtskameraden gestellt hätten. Ich denke dabei an SS-Generäle wie Paul Hausser oder Felix Steiner oder den Chef des SS-Führungshauptamtes Hans Jüttner, der allen Einfluß geltend machte, die Waffen-SS dem Heer anzugleichen und ihren Ruf als „Parteipolizei“ abzuschütteln. Zudem hatte man auch bei der SS die katastrophalen Folgen der hitlerischen Kriegsführung erkannt und sah diese zunehmend kritisch; zu nennen ist da insbesondere Sepp Dietrich, Chef der SS-Leibstandarte Adolf Hitler. Auch die Rolle der übrigen SS und der von ihr kontrollierten Polizei sowie des Reichsführers-SS vor dem Putsch liegt weitgehend noch im dunkeln. 

Ausgerechnet Holocaust-Hauptverbrecher Heinrich Himmler sollte Kontakt zum Widerstand gehabt haben?

Wernitz: 1966 ging die Juristin Hedwig Maier in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte dieser Frage nach. Zwar konnte sie sich wegen der spärlichen Quellenlage nur auf Indizien stützen, doch demnach hätten Verbindungen zum Widerstand bestanden. Gleichwohl ist die Frage bis heute offen. Allerdings erscheint mir eine ganz andere Frage im Falle eines geglückten Attentats von Bedeutung als die nach der SS: Wäre die Wehrmacht der neuen Führung vorbehaltlos gefolgt? 

Die sollte ja gar nicht gefragt werden, sondern einfach die Befehle befolgen, die aus dem von Stauffenbergs Männern kontrollierten Hauptquartier des Ersatzheeres im Berliner Bendlerblock kamen. 

Wernitz: Und die von Feldmarschall Erwin von Witzleben unterzeichnet waren, als neuem Oberbefehlshaber der Wehrmacht. Nur war der 1942 – übrigens wegen des Verdachts, Teil einer militärischen Verschwörung zu sein – abgelöst und aus dem aktiven Dienst genommen worden. Vor allem aber waren er und der Ex-Generalstabschef Generaloberst a.D. Ludwig Beck, der neues Staatsoberhaupt werden sollte, ebenso wie Reichskanzler Goerdeler, Repräsentanten einer traditionalistisch und nationalkonservativ geprägten Weltanschauung, die nach meiner Ansicht 1944 in der Wehrmacht bereits als „reaktionär“ galt und kaum noch Anhänger fand. 

Warum nicht?

Wernitz: Weil das vom Nationalsozialismus propagierte Prinzip der sozialen Durchlässigkeit bereits Früchte getragen hatte, worauf gerade jüngere Offiziere wohl nicht mehr verzichten wollten: Nicht der Stand, Leistung war nun Garant für den sozialen Aufstieg. Die während des Krieges erzwungene Beförderungsdynamik und die verstärkte ideologische Indoktrination führten zu einer institutionellen Verschmelzung von Partei und Wehrmacht. Das Offizierskorps war 1944 nicht mehr, wie noch 1933 elitär, sondern egalitär und verstand sich als neue Funktionselite. Zudem hätte den Verschwörern der Makel angehaftet, im schwersten Kampf um die Existenz Deutschlands das Reich in eine Krise gestürzt zu haben, die letztlich dem Feind in die Hände spielen würde. Die „Dolchstoßlegende“ war damals noch sehr präsent und die Reaktionen in der Wehrmacht nach dem mißglückten Putsch unterstreichen meine These. Die überwiegende Mehrheit der Soldaten fühlte sich auch im Sommer 1944 an ihren Eid auf Hitler gebunden und betrachtete die Putschisten als Verräter.

Keine Truppe der Welt würde holterdipolter einem Aufstandsbefehl folgen, daher ja das Bemühen des 20. Juli, alles legal aussehen zu lassen. Dennoch gab es in keiner Armee so viel Widerstand wie in der Wehrmacht – und das auch schon vor dem Krieg –, nicht in der japanischen, nicht gegen Stalin, und der Mitte 1943 bereits apathische Mussolini wurde vom König entlassen. 

Wernitz: Richtig ist, daß mit Blick auf die katastrophale militärische Lage Italiens faschistische Politiker auf eine Ablösung Mussolinis drängten, ein Wunsch, dem sich das Militär anschloß, und Stalin ließ die Führungsspitze der Roten Armee aufgrund des Verdachts einer Verschwörung hinrichten. In Deutschland ist die Haltung des Militärs zur Politik vielschichtiger. Gleich den Nationalsozialisten lehnten etliche Verschwörer des 20. Juli vor 1933 die Weimarer Republik strikt ab, weil sie nach ihrer Auffassung ein Produkt „undeutschen“ Geistes sei. Stauffenberg hegte lange keinen Zweifel daran, daß die Nationalsozialisten eine notwendige Bewegung der nationalen Erneuerung seien, die mit der Demokratie der Weimarer Republik aufräumen müßten. Eine ideologische Übereinstimmung ist demnach nicht von der Hand zu weisen. So muß die Frage erlaubt sein, wie man gegen etwas rebellieren kann, mit dem man jahrelang übereinstimmte? 

Daß Stauffenberg zunächst Hitler-Verehrer war, ist bekannt, allerdings hat er ihn nie gewählt. Im Gegensatz zu Martin Niemöller, der Hitler folglich ebenso begrüßte wie die begeisterten HJ-Funktionäre Hans und Sophie Scholl oder John Rabe, der als „der Schindler Chinas“ zahllose Menschen rettete und wie Oskar Schindler NSDAP-Mitglied war. Was übrigens auch für Bundeskanzler Kiesinger gilt. Ganz zu schweigen von Bundespräsident Heuss, der sogar zum exklusiven Kreis der 444 Abgeordneten zählte, die die Weimarer Republik beseitigten und durch ihr Ja zum Ermächtigungsgesetz Hitler erst zum Diktator kürten. 

Wernitz: Ich denke, daß die damaligen Beweggründe, für oder gegen die Politik der NSDAP sehr vielschichtig und im Laufe der Zeit Veränderungen unterworfen waren. Dies gilt auch für den militärischen Kreis um Graf Stauffenberg. Gleichwohl hat der US-Historiker Henry M. Pachter diese Frage in „The Legend of the 20th of July, 1944“, sicher überspitzt und historisch angreifbar, aber zum Nachdenken anregend so beantwortet: die Attentäter hatten keine Ideen, sondern starben, weil sie den Gestank ihrer Taten nicht mehr ertrugen. 

Ist diese moralische Bewertung des kompletten Kollektivs aller am Krieg beteiligten deutschen Soldaten des US-Historikers nicht ungerecht, da die allermeisten eben nicht den Kenntnistand über Unrechtstaten des NS-Regimes hatten, und wenn ja, nicht über die Netzwerke verfügten, um effektiv Widerstand zu leisten? 

Wernitz: Das könnte ich mir vorstellen, zumal darin die Anklage erhoben wurde, Stauffenberg und seine Mitverschwörer habe als militärische Eliten erst die Kenntnis der kommenden Niederlage und des Zusammenbruchs aufgerüttelt. Jedenfalls gereicht der Vorwurf, sie seien dem System zu lange ergeben und in den verbrecherischen Krieg verstrickt gewesen, der Traditionspflege um die Attentäter sicher nicht zum Vorteil. Auch Winfried Heinemann wies in seiner Militärgeschichte des 20. Juli zu Recht darauf hin, daß dieser weder als Vorbild für die Streitkräfte eines demokratischen Staats noch gar als Exempel des Primats der Politik taugt. Die Wehrmacht hat den Primat einer verbrecherischen Politik ja fast uneingeschränkt anerkannt und gelebt, und der militärische Widerstand ist der einzige verzweifelte Versuch traditionell-konservativ geprägter Soldaten, sich den Vorgaben dieser Politik der Vernichtung zu entziehen. 



Dr. Frank Wernitz: Der Militärhistoriker ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Heereskunde und war bis 2023 Kurator und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bayerischen Armeemuseum in Ingolstadt sowie zuvor Referatsleiter der bayerischen Museen und Sammlungen. Er veröffentlichte unter anderem in der Fachzeitschrift Militärgeschichte des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr sowie mehrere Bücher, darunter 2023: „Rivalen oder Kampfgemeinschaft in Feldgrau? Diskussionsbeitrag zur Beziehung zwischen Wehrmacht und bewaffneter SS 1933–45“. Geboren wurde er 1957 in Schweden und wuchs in München auf.


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