Der 20. Juli ist in der Bundesrepublik Deutschland Gedenktag. Kein arbeitsfreier Feiertag, wie etwa der 3. Oktober, aber doch hervorgehoben; äußerlich beispielsweise indem deutschlandweit vor allen Bundesbehörden geflaggt ist. „Offizielle Gedenk- und Feiertage gehören zu den Symbolen, durch die sich ein Staat öffentlich darstellt“, heißt es beim für protokollarische Fragen zuständigen Bundesinnenministerium. Dazu gehört dieser Jahrestag des Attentats auf Adolf Hitler, an dem des Widerstandes gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft gedacht wird; aber auch der 27. Januar als „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“, der 17. Juni als „Nationaler Gedenktag des deutschen Volkes“ und der 20. Juni als Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung.
Als solches ist der 20. Juli damit auch eingeflochten in die Gedenk-Routine der politischen Repräsentanten. Jedes Jahr findet an diesem Datum eine Feierstunde der Bundesregierung und der Stiftung 20. Juli 1944 samt Totengedenken und Kranzniederlegung statt. Seit 2014 legt man die zwei zuvor getrennten Veranstaltungen zu einer zusammen. Also wechselt jährlich die Örtlichkeit; entweder findet die offizielle Feier im Ehrenhof des Bendlerblocks, der zur Gedenkstätte Deutscher Widerstand gehört statt oder in der Gedenkstätte Berlin-Plötzensee.
Es werden Ansprachen und Reden gehalten, in der Regel von Vertretern der Stiftung – meist sind es Nachfahren prominenter Widerstandskämpfer – und Repräsentanten des Bundes und des Landes Berlin. Anschließend legen sie und weitere Repräsentanten der Repräsentanten der Verfassungsorgane Kränze nieder. Das „heilige Deutschland“, das Claus-Graf-Stauffenberg in den letzten Augenblicken seines Lebens vor dem Erschießungspeloton beschwor, wird in der Regel von den staatlichen Würdenträgern nicht mehr erwähnt.
Beispielhaft für den heutigen Tonfall ist eher das, was zum 75. Jahrestag die seinerzeitige Bundeskanzlerin bei diesem Anlaß äußerte: „Aber auch heute müssen wir entschlossen für die Zukunft der Europäischen Union eintreten, gegen Nationalisten und Populisten“, forderte mit bewußter Anspielung auf aktuelle politische Kontroversen. „Mehr denn je und das gilt über Europa hinaus müssen wir multilateral statt unilateral denken und handeln, global statt national, weltoffen statt isolationistisch – kurzum: gemeinsam statt allein. Das sind die Aufgaben unserer Zeit – ob es um Frieden geht, um die Bekämpfung des Klimawandels und des Artensterbens, um die Ausrottung des Hungers oder um Gesundheitsversorgung für alle.“
Im Lauf der Jahrzehnte wanderte das 20. Juli-Gedenken nach links
Inhalt und Form des Gedenkens an den 20. Juli waren stets dem jeweiligen Zeitgeist unterworfen. In den Anfangsjahren zogen vor allem christdemokratische bzw. -soziale Politiker eine (partei-)politische Linie zu den Mitgliedern des christlichen Widerstands, von denen einige Überlebende nachmals Gründerväter und -mütter der Unionsparteien wurden. Später wurden in Reden Parallelen zu den Kämpfern des Volksaufstands in der DDR vom 17. Juni 1953 gezogen.
Zu Beginn der siebziger Jahre wurde häufig eine Verbindung mit den zeitgenössischen Gefährdungen für die freiheitliche demokratische Ordnung gezogen. Zehn Jahre später betonten die offiziellen Repräsentanten in ihren Ansprachen, die Beschäftigung mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus solle der Jugend die demokratischen Ideale des Staates näherbringen.
Im Laufe der achtziger Jahre rückten insbesondere durch den Einfluß des Leiters der Berliner Gedenkstätte, Peter Steinbach, andere Gruppen als die zum bürgerlich-konservativ-militärischen Widerstand gehörenden in den Fokus des Gedenkens. Ein „integraler“ Widerstandsbegriff löste so den antitotalitären ab. Das stieß damals noch auf deutliche Kritik; bei Nachfahren und Angehörigen, aber auch unter anderem bei Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU). Besonders harsch äußerte sich der jüngste Stauffenberg-Sohn Franz Ludwig. Beim Gedenken am 50. Jahrestag kam es zum Eklat, als er sich mit Blick auf die in der Dauerausstellung gewürdigten Kommunisten Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck sowie auf das sowjetisch organisierte Nationalkomitee Freies Deutschland gegen die Versuche verwahrte, seinen Vater „in die häßliche Kumpanei von Tyrannen und Totschlägern wie Pieck, Ulbricht und Stalin herabwürdigen zu lassen“.
Am kommenden Samstag nun findet die zentrale Gedenkfeier zum 80. Jahrestag des Attentats auf Hitler im Bendlerblock statt. Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) spricht ein Grußwort, es folgt eine Ansprache von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Anschließend hält die Kuratoriumsvorsitzende der Stiftung 20. Juli 1944 Valerie Riedesel Freifrau zu Eisenbach, eine Enkelin des Widerstandskämpfers und Stauffenberg-Vetters Cäsar von Hofacker, das Totengedenken. „Danach legt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, begleitet vom Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, an dem Ort einen Kranz nieder“, so das offizielle Programm. Vertreten sein werden auch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, Verteidigungsminister Boris Pistorius und die Präsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses Cornelia Seibeld.
Wie über 250 weitere Nachkommen von Widerstandskämpfern gehörte auch Valerie Riedesel zu den Unterzeichnern eines Anfang des Jahres veröffentlichten Aufrufs. Unter Verweis auf die Schicksale ihrer Vorfahren zogen sie Parallelen zwischen der Zeit des Nationalsozialismus und der gerade hochkochenden Aufregung um das vermeintliche „Geheimtreffen“ von Potsdam. Unter der Überschrift „Aus der Geschichte lernen, die Demokratie stärken!“ appellierten sie: „Es waren unsere Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, die sich dem NS-Unrecht damals als Widerstandskämpfer entgegengestellt haben. Deshalb melden wir uns als Angehörige und Nachkommen heute zu Wort und fordern alle Mitbürger dazu auf, der Neuen Rechten in unserem Land und europaweit die Stirn zu bieten.“
Es sei zu befürchten, daß „vor allem rechte Parteien zu den Gewinnern“ der Europawahl gehörten. Weiter forderten die Unterzeichner, darunter ein Enkel Claus von Stauffenbergs, Mitglieder der Familie Bonhoeffer-Dohnanyi sowie Nachkommen Helmuth James von Moltkes und Carl Friedrich Goerdelers, daß die Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen „nicht zugunsten der AfD ausgehen“ dürften.
Wem gehören Helden wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg?
Die so gebrandmarkte Partei wiederum würdigt ebenfalls den Widerstand um Stauffenberg und seine Mitstreiter. Zum Jahrestag sollen auf den Social-Media-Kanälen kurze Interviews mit AfD-Politikern erscheinen, in denen diese beispielsweise die patriotisch-konservative Grundhaltung des Hitler-Attentäters hervorheben. Zudem hat die Bundestagsfraktion erneut den Antrag eingebracht, auf dem ehemaligen Flughafen Rangsdorf bei Berlin „eine würdige Gedenkstätte für die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944“ zu errichten. Auf dem seinerzeitigen „Reichssportflughafen“ war Stauffenberg nach dem Attentatsversuch, vom „Führerhauptquartier“ in Ostpreußen kommend, gelandet und Richtung Bendlerblock aufgebrochen, um von dort mit dem Plan „Walküre“ die Absetzung des NS-Regimes zu koordinieren. Daran zu gedenken, hatte die AfD schon einmal vorgeschlagen. Vor drei Jahren scheiterte das Ansinnen an den Gegenstimmen von Linken, SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU.
Ist das offizielle Gedenken mittlerweile zum rein äußerlichen Ritual erstarrt, pflichtschuldig absolviert und inhaltlich mit rein aktuellen politischen Bannformeln überzogen? Sowohl im Auswärtigen Amt als auch im Verteidigungsministerium möchte man diesen Eindruck offenbar widerlegen. Man räume im eigenen Haus „dem Gedenken an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus einen besonderen Stellenwert ein“, betonte ein Sprecher auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT. So stelle das Auswärtige Amt auf seiner Internetseite „die Geschichten von insgesamt 13 Kolleginnen und Kollegen dar, die im Widerstand gegen die Herrschaft der Nationalsozialisten ihr Leben verloren haben“. Um sie zu ehren gebe es im Ministerium einen „Saal des 20. Juli“ und davor eine Büste des Widerstandskämpfers und Botschafters Ulrich von Hassell. Dieses Erbe sei „traditionsstiftend für das Auswärtige Amt“, heißt es weiter. Zudem sei der 20. Juli 1944 Thema des Geschichtsunterrichts in der Diplomatenausbildung sämtlicher Laufbahnen.
„Der Widerstand gegen das NS-Regime nimmt eine herausgehobene Rolle für die Tradition der Bundeswehr ein“, betont auch eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums gegenüber der jungen freiheit. In zahlreichen Veranstaltungen werde das Thema „lebendig gehalten“. Dazu gehöre besonders das alljährliche Gelöbnis auf dem Paradeplatz des Bendlerblocks am 20. Juli. „Dabei kann die Bedeutung des Tages für das Konzept der ‘Inneren Führung’ nicht oft genug betont werden“, teilte die Ministeriumssprecherin weiter mit.
Im Handbuch für Innere Führung heißt es dazu, daß zwar die „Wehrmacht für die Bundeswehr nicht traditionswürdig“ sei, aber „einzelne ehemalige Angehörige der Wehrmacht aufgrund ihres individuellen Verhaltens oder ihrer besonderen Taten eine persönliche Traditionswürdigkeit aufweisen.“ Dies gelte etwa „für die Persönlichkeiten des militärischen Widerstandes, insbesondere im Kontext der Ereignisse vom 20. Juli 1944“. Denn die Bundeswehr fordere „keinen bedingungslosen Gehorsam, sondern läßt aus geschichtlicher Erfahrung einen gewissensgeleiteten Gehorsam zu, der freilich eine große Selbstverantwortung erfordert“.
Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Kameraden im Widerstand hätten „eine vorbildliche soldatisch ethische Haltung gezeigt“, da sie am 20. Juli 1944 aktiv gegen das NS-Regime vorgegangen seien und unter Einsatz ihres Lebens „eine Tapferkeit bewiesen, die für unsere Tradition Vorbildcharakter hat“. Denn, so heißt es im Führungshandbuch weiter, diese Offiziere stellten „die Gewissensfreiheit und die persönliche Verantwortung gegenüber dem deutschen Volk sowie vor der Geschichte und vor ihrem Gott höher als den blinden Gehorsam gegenüber dem nationalsozialistischen Kollektiv und dem sogenannten Führereid“.
Foto: Generalinspekteur Breuer, Verteidigungsminister Pistorius (SPD) und die jüngste Tochter von Stauffenberg, Konstanze von Schulthess-Rechberg (v.l.n.r.), bei einem Gelöbnis der Bundeswehr am 20. Juli 2023: Im Geiste einer „vorbildlich soldatisch ethischen Haltung“