Die von den USA angekündigte Stationierung neuer Marschflugkörper schlägt erwartungsgemäß nicht nur bei den europäischen Nato-Mitgliedsstaaten, sondern auch in Moskau hohe Wellen. In einem am 10. Juli auf der Website des Weißen Hauses veröffentlichten Erklärung hatten die USA und Deutschland bestätigt, ab dem Jahr 2026 schrittweise das US-Arsenal an Marschflugkörpern, die bei Bedarf auch mit nuklearen Sprengköpfen ausgerüstet werden können, auf US-Basen in Deutschland auszubauen. „Zu diesen konventionellen Fernfeuereinheiten werden SM-6, Tomahawk und in der Entwicklung befindliche Hyperschallwaffen gehören, die eine deutlich größere Reichweite haben als aktuelle landgestützte Flugkörper in Europa“, erklärte hierzu die US-Regierung. „Die Ausübung dieser fortschrittlichen Fähigkeiten wird das Engagement der Vereinigten Staaten für die Nato und ihren Beitrag zur integrierten europäischen Abschreckung unter Beweis stellen.“
Tatsächlich hatten die federführenden Nato-Staaten mit der Aufstockung ihrer eigenen Kapazitäten auf europäischem Boden lange gezögert. Zu lange, wie insbesondere Frankreich auf dem jüngsten Nato-Gipfel im Juni in Washington verdeutlichte. „Der Krieg in der Ukraine beweist, daß Fernangriffe ein zentrales Thema für die Verteidigung Europas sind“, schrieb der französische Verteidigungsminister Sébastien Lecornu am Folgetag der historischen Erklärung auf X.
Durchschnittliche Abfangquote von über 90 Prozent aller Raketen
Neben Deutschland, Polen und Italien hatte auch Frankreich während des Nato-Gipfels eine eigenständige Entwicklung neuartiger Marschflugkörper zugesichert. Wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, habe Paris ebenso die neue Regierung Großbritanniens zur Zusammenarbeit eingeladen; eine Beantwortung der Einladung durch London stünde allerdings noch aus.
„Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis“, betonte diesbezüglich das US-Außenministerium. „Ihr Hauptzweck ist es, Kriege zu verhindern, nicht, sie zu führen.“ Eine strategische Aufrüstung des Arsenals sei zu werten als integraler Baustein der „ersten umfassenden Verteidigungspläne, die das Bündnis seit dem Ende des Kalten Krieges entwickelt hat.“ Konkrete Vorgabe ist insbesondere die Entwicklung von Marschflugkörpern mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit sowie einer Reichweite von weit über 500 Kilometern, um das vorhandene russische Arsenal auf europäischem Boden auszugleichen. Schätzungen des ukrainischen Militärnachrichtendienstes HUR zufolge besaß Rußland im April dieses Jahres rund 700 sogenannter Cruise-Missiles bei einer monatlichen Produktionsrate von etwa 60 Cruise-Missiles sowie zwei Überschallraketen der Marke Kinschal.
Fraglich ist jedoch die allgemeine Wirksamkeit dieser russischen Fabrikate: Ausgerüstet mit westlichen Luftabwehrsystemen, vermeldet die Ukraine seit gut einem Jahr eine durchschnittliche Abfangquote von über 90 Prozent aller Raketen. Im Falle eines konventionellen Kriegs mit Rußland möchte die Nato an diese Erfolgsrate anknüpfen. In diesem Szenario spielt vor allem der Vertragspartner Polen als direkter Anrainer sowohl an die russische Exklave Nordostpreußen (Kaliningrader Oblast) als auch an den russischen Verbündeten Weißrußland eine strategisch herausragende Rolle: Bereits im Februar hatte Warschau den Kauf von IBCS-Systemen aus US-Produktion im Wert von 2,5 Milliarden Dollar (rund 2,3 Milliarden Euro) bewilligt.
Diese Systeme sollen bis spätestens 2031 sämtliche Radarüberwachung des polnischen Luftraums mit der bereits vorhandenen polnischen Patriot-Raketenabwehr zusammenführen – ein innovativer, beinahe undurchdringlicher Abwehrschild, an welchem die USA seit gut zwanzig Jahren arbeiten. Pünktlich zum Beginn des Nato-Gipfels am 9. Juli konnte Polen die Inbetriebnahme eines ersten zugehörigen Verteidigungsstützpunktes unweit von Reitz (Redzikowo) an der pommerschen Ostseeküste Polens verkünden. Als einen „wichtigen Schritt für die transatlantische Sicherheit und die Fähigkeit der Nato, sich gegen die wachsende Bedrohung durch ballistische Raketen zu verteidigen“ lobte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg vergangene Woche die polnischen Bemühungen.
Angesichts der wachsenden Schlagkraft der Nato auf europäischem Boden, die durchaus dazu konzipiert wurde, das militärische Gleichgewicht zu Rußland aufzuheben, sieht sich Moskau dazu bewogen, vor einem neuen Wettrüsten in Europa zu warnen. „Wir unternehmen stetige Schritte in Richtung des Kalten Krieges“, erklärte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow vergangenen Donnerstag im Interview mit Journalisten des russischen Staatssenders WGTRK. „Alle Eigenschaften des Kalten Krieges mit der direkten Konfrontation kehren zurück.“
„Europäische Standorte als Ziele für unsere Raketen ausgewiesen“
In einem Konflikt zwischen Rußland und den USA, so Peskow, leisteten sich die europäischen Nato-Staaten mit ihrer Aufrüstung einen Bärendienst. „Es gab schon immer eine paradoxe Situation: Die Vereinigten Staaten haben in Europa eine Vielzahl von Raketen unterschiedlicher Reichweite stationiert, die traditionell auf unser Land gerichtet sind“, warnte der Kreml-Sprecher. „Dementsprechend hat unser Land europäische Standorte als Ziele für unsere Raketen ausgewiesen.“
Rußlands Bedrohungsgefühl umfaßt indessen nicht mehr nur die Westgrenze, sondern auch den Fernen Osten des Flächenstaates – und selbst in Zentralasien sieht sich Moskau in seiner Hegemonie bedroht. Auf höchster Ebene eingeladen waren zum jüngsten Nato-Gipfel ebenso die indopazifischen Partner Australien, Neuseeland, Südkorea und Japan. Der Tokioter Regierungschef Fumio Kishida gilt als engagierter militärischer Unterstützer der Ukraine. Bereits im Juni 2022 warnte der liberale Ministerpräsident mit Blick auf den Taiwan-Konflikt, daß „die Ukraine von heute das Ostasien von morgen sein kann.“
Großangelegte Militärübung an der Südgrenze Rußlands
Neben der fortgeführten Unterstützung Kiews vereinbarte das Kaiserreich dieser Tage mit der Nato eine verbesserte Zusammenarbeit in den Bereichen der Künstlichen Intelligenz (KI), der Cyberverteidigung sowie jener gegen Desinformationskampagnen Rußlands und Chinas. Inbegriffen sind dabei auch künftige militärische Übungen der japanischen und Nato-Seestreitkräfte vor Japans Küste. Speziell vor letzteren warnte Rußlands Vizeaußenminister Andrej Rudenko diesen Montag als einen „Schritt, der darauf abzielt, das Nordatlantische Bündnis stärker in die Angelegenheiten der Region einzubeziehen, die weit über die geographische Zuständigkeit der Nato hinausgehen.“
Um so verstörender kommt für den Kreml, daß Mitte Juli auch an der Südgrenze Rußlands eine großangelegte Militärübung abgehalten wurde – und dies erstmalig ohne eine Einladung an Rußland als Beobachter: Mit der Operation „Birlestik-2024“ („Allianz-2024“) hatten die Ex-Sowjetrepubliken Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan, Kirgistan und Aserbaidschan in einer mehrtägigen maritimen Übung im Kaspischen Meer nicht nur ihre gemeinsame militärische Schlagkraft und ihren Kooperationswillen erfolgreich unter Beweis gestellt. Die explizite Nichteinladung Rußlands, mit sämtlichen dieser Staaten immerhin in der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ (GUS) verbunden, war überdies ein deutliches politisches Signal an Moskau, inwiefern sich Zentral-asien und der Kaukasus künftig von Rußland zu emanzipieren gedenken.
Nato Summit – Marking 75 years of the Alliance: www.nato.int/cps/en/natohq/226799.htm
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