Seit der Reichsgründung 1871 war die Wehrpflicht für alle deutschen Männer normal – nur die „Weißen Jahrgänge“ 1928 bis 1937 (in der DDR bis Jahrgang 1939) waren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zum Militärdienst verpflichtet worden. Es gab zwar die Bundeswehr-Alternative „Ersatzdienst“ und West-Berliner bis Jahrgang 1968 kamen durch den Viermächte-Status bis 1990 um die Wehrpflicht „herum“. Aber erst 2011 unter Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) wurde die 1968 im Grundgesetz-Artikel 12a festgeschriebene Wehrpflicht im Rahmen von Einsparungen durch das Wehrrechtsänderungsgesetz ausgesetzt.
Doch mit dem Ukrainekrieg und der am 27. Februar 2022 von Olaf Scholz verkündeten „Zeitenwende“ heißt es Kommando zurück: Die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) will „ein Pflichtjahr für alle – Männer wie Frauen“. Auch der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) würde gerne Frauen verpflichten. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) präferiert den realistischeren Zwischenschritt des „Neuen Wehrdienstes“: Erfassung von Wehrdienstpersonal mittels obligatorischem Fragebogen, Auswahl über festgelegte Heranziehungskriterien.
Die CDU geht in ihrem neuen Grundsatzprogramm weiter: „Wir werden die Aussetzung der Wehrpflicht schrittweise zurücknehmen und die Wehrpflicht in ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr überführen.“ Widerstand gibt es von der FDP: Das Ziel, „die Bundeswehr zu einer der modernsten und schlagkräftigsten Armeen zu machen“, ließe sich „nur mit der entsprechenden gesellschaftlichen Akzeptanz erreichen“. Dies schließe „die Wiedereinführung einer allgemeinen Wehrpflicht bzw. Dienstpflicht“ aus, heißt es in einem Brief von den Ministern Christian Lindner (Finanzen) und Marco Buschmann (Justiz) an Pistorius. Zudem sei der Strukturaufbau ein „langwieriger und extrem kostenintensiver Prozeß“ – und ein Pflichtjahr werde zu volkswirtschaftlichen Verlusten führen.
In Zeiten von Fachkräftemangel und niedriger Arbeitslosigkeit hat der „tiefe Einschnitt in die Freiheit und persönliche Lebensplanung“ handfeste Nebenwirkungen, wie eine Studie des Münchner Ifo-Instituts vorrechnet: Die Wiedereinführung der Wehrpflicht im Rahmen eines sozialen Pflichtjahres für alle eines Jahrgangs wäre mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 1,6 Prozent verbunden und das würde die deutsche Volkswirtschaft bis zu 70 Milliarden Euro kosten. Das wäre so viel „wie die Mittel aus dem Verteidigungshaushalt und dem Sondervermögen Bundeswehr im Jahr 2024 zusammen“, erklärte der Ifo-Ökonom Marcel Schlepper vom Ifo Zentrum für öffentliche Finanzen.
„Ungleiche Verteilung der Lasten und Zweifel an Wehrgerechtigkeit“
Würde nur ein Viertel eines Jahrgangs eingezogen, könnte die Wirtschaftskraft um 0,4 Prozent oder 17 Milliarden Euro zurückgehen. Würden fünf Prozent eines Jahrgangs eingezogen – wie bislang in Schweden – betrage der Verlust nur 0,1 Prozent oder drei Milliarden Euro. Die Kosten entstünden vor allem dadurch, weil die Wehr- oder Dienstverpflichteten erst später begännen, Vermögen sowie wirtschaftlich nutzbare Fähigkeiten und Kenntnisse aufzubauen. Zudem wären die Kosten ungleichmäßig verteilt: Sie fielen primär bei den Wehr-/Dienstpflichtigen selbst an.
In der Studie (Ifo Forschungsberichte 144/24) seien negative Folgen bei Einkommen und Konsum bis zum Lebensende festgestellt worden: „Wenn nur ein kleiner Anteil eines Jahrgangs verpflichtet werde, wirft das angesichts der ungleichen Verteilung der Lasten erhebliche Zweifel an der Wehrgerechtigkeit auf“, erläuterte der finnische Ökonom Panu Poutvaara, Leiter des Ifo Zentrums für Internationalen Institutionenvergleich. Bei einer Berufsarmee – wie in Großbritannien, Indien, Japan, Kanada, Spanien oder den USA – müßten dagegen alle die höheren Staatsausgaben finanzieren.
„Bei einer Wehrpflicht entstehen für die Nicht-Wehrpflichtigen kaum Kosten. Das mag erklären, warum eine Wehrpflicht insbesondere bei jenen Altersgruppen so beliebt ist, die nicht selbst betroffen wären“, so Schlepper. „Als Alternative zur Wehrpflicht wäre es sinnvoller, die Bundeswehr mit mehr Mitteln auszustatten, um sie als Arbeitgeber attraktiver zu machen“, empfahl der LMU-Ökonomieprofessor Poutvaara. Dies würde zwar den Bundesetat stärker belasten, aber die Gesamtkosten fielen um fast die Hälfte geringer aus: 37 statt 70 Milliarden Euro. Im 25-Prozent-Szenario wären es neun statt 17 Milliarden Euro und nur zwei statt drei Milliarden Euro (im Fünf-Prozent-Szenario). Mit dem freiwilligen Wehrdienst werde dies von der Bundeswehr angeboten – aber angesichts der niedrigen Anzahl an Bewerbungen sei das nicht attraktiv genug.
„In unserem Modell bedeutet die Marktlösung, daß die Netto-Gehälter der nun Freiwillig Wehrdienstleistenden auf das Gehaltsniveau am Markt angehoben werden. Die mit einer Wehrpflicht einhergehenden Zuwächse beim militärischen Personal können so für alle drei Szenarien ebenso als Marktlösung implementiert werden“, heißt es in der Ifo-Studie. Der Wehrdienst werde durch die höheren Gehälter attraktiver: Für die Bundesregierung „stellt das zusätzliche Kosten dar, die über Steuern zu finanzieren sind. Die jungen Individuen müßten aber nicht mehr zu einem Jahr Dienst verpflichtet werden, sondern würden ihre Arbeitskraft den Streitkräften zu einem Zeitpunkt zur Verfügung stellen, wenn es mit ihren Bildungspräferenzen im Einklang ist“, argumentieren die Ifo-Ökonomen.
Mit Hilfe des „100-Milliarden-Sondervermögens“ würden zwar erstmals seit drei Jahrzehnten mehr als zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgegeben, fraglich sei jedoch, ob dies ausreiche. Eines sei aber klar: „Gegenüber einer Wehrpflicht ist eine Marktlösung, die im gleichen Maße die militärischen Fähigkeiten ausweitet, aus gesamtwirtschaftlicher Sicht kostengünstiger.“
„Volkswirtschaftliche Kosten einer Wiedereinführung der Wehrpflicht oder eines sozialen Pflichtjahres“ (Ifo Forschungsberichte 144/24): www.ifo.de/publikationen