Auch wenn Ernest Hemingway jetzt, am 21. Juli, bereits seinen 125. Geburtstag feiert, kann es nicht schaden, ihn gerade heutzutage in Erinnerung zu bringen mit seinem Rat an junge Autoren: „Schreib den wahrsten Satz hin, der dir einfällt.“ Diese Regel zählt immer, es ist eine Journalistenregel, die leider in Vergessenheit geraten ist.
Die wahren, einfachen, klaren Sätze.
Von Hemingway lernten alle, besonders wie man Dialoge schreibt. Die Pausen sind so wichtig wie das Gesagte. Wichtiger. Rund achtzig Prozent bleiben ja ungesagt, ungezeigt, wie beim Eisberg, dessen Masse unter dem Wasserspiegel liegt. Übrig bleiben die wahren Sätze, die Ernest Hemingway schreiben wollte. Wie in der 1933 veröffentlichten Story „Ein sauberes, gutbeleuchtetes Cafe“:
„Letzte Woche hat er einen Selbstmordversuch gemacht“, sagte der eine Kellner.
„Warum?“
„Aus Verzweiflung.“
„Worüber?“
„Über nichts.“
„Woher weißt du, daß es nichts war?“
„Er hatte ’ne Menge Geld.“
Einfache klare Sätze, die da in einem kleinen spanischen Straßencafé fallen. Und er jagte weitere, einfache und wahre Sätze, später, sein Leben lang, unter den flachen Akazienbäumen auf der roten Erde Afrikas oder in Harrys Bar in Venedig oder auf dem Schlachtfeld von Guadalajara, Spanien. Damit schuf er eine neue Art des Erzählens. Einfache, klare Sätze.
William Faulkner, der andere Gigant, meinte geringschätzig: „Er hat nie ein Wort benutzt, das den Leser veranlassen könnte, im Wörterbuch nachzuschlagen“, worauf Hemingway, den alle Welt Hem nannte, antwortete: „Meint er wirklich, daß große Emotionen von großen Worten herrühren? Ich kenne all diese großartigen Zehn-Dollar-Worte. Aber es gibt ältere und einfachere und bessere, und das sind die, die ich benutze.“ Im übrigen, setzte er hinzu, trinke sich Faulkner um seinen Verstand.
Aber wir wollen jetzt unsererseits das Glas erheben auf Hemingway, den Kerl, der einen Grizzlybär in Wyoming schoß und sich das Fell zum Schrecken der Hausangestellten mit präpariertem Kopf in den Flur zum Arbeitszimmer in Key West legte.
Hemingway also, der schon mit 18 ein Kriegsheld war, als ihm eine Granate den halben Unterleib zerriß und dann noch einen schwer verwundeten Kameraden aus der Feuerzone schleppte, im Sanitätseinsatz in Italien in den letzten Wochen des Ersten Weltkriegs.
Hem also, der nach Paris ging als Reporter und nach dem goldenen Regelbuch der Tageszeitung Toronto Star arbeitete (knappe genaue plastische Sätze!) und Mussolini interviewte und ihn trefflich festnagelte als „Europas Meisterbluffer“ mit dem Talent, „schwache Ideen in starke Worte zu kleiden“.
Hemingway aber auch, der dann zielstrebig die Pariser Ex-Pat-Avantgarde um Gertrude Stein und Ezra Pound (den späteren romantischen Duce-Bewunderer) ansteuerte und ihrem Rat folgte und den Journalismus, der ihn gut ernährte, an den Nagel hängte – um wirklich zu schreiben.
Mit seiner jungen Frau Hadley, die schmale Zuwendungen aus einem Trustfund erhielt, lebte er 1921 in einer Mansarde über einem Sägewerk. Und er arbeitete an einfachen wahren Sätzen. Beobachtungen, Kurzgeschichten aus dem Leben der amerikanischen Meute, und er schaute genau hin. John dos Passos, Sherwood Anderson, Ford Madox Ford, alle suchten und stocherten, Scott Fitzgerald hatte es bereits zu Ruhm geschafft, aber nicht dorthin, wohin Hem wollte: zu ganz neuen Ufern.
Hunger ist ein Lehrer, schrieb er, er läßt die Farben leuchten in den Bildern im Pariser Musée du Luxembourg, zum Beispiel in denen von Paul Cézanne. So wie der malte, wollte er schreiben: konzentriert auf das Wesentliche.
Er schrieb meist im Café „La Closerie des Lilas“ und mied die aufgekratzten Boheme-Darsteller im Restaurant „Dome“, und wenn ihn einer störte bei der Arbeit, blaffte er „Hau ab, oder noch besser: Häng dich auf“!“
Und dann macht er einen Stierkampf-Ausflug mit seiner Meute zum Roman, das Ergebnis ist „Fiesta“ (im amerikanischen Original „The Sun Also Rises“, 1926), es schildert die Besäufnisse, die Prügeleien, das Stampfen der Stiere durch die Gassen hin zur Arena, den Blutrausch der Aficionados, die Würde der Toreros und die tänzerische Schönheit des jungen Matadors Romero.
Ein Roman so lakonisch, zynisch, sinnlos wie das Leben nach dem Großen Krieg, lauter wahre Sätze – und vor allem ein großes Werk des Verrats. Denn alle seine Freunde sind kenntlich, es ist so locker erzählt und schmucklos, das Unwichtige wird als unwichtig geschildert, meine Lieblingsstelle ist die vom Kathedralenbesuch der Meute: „Cohn machte die Bemerkung, daß dies ein sehr gutes Beispiel von irgendwas sei, ich hab vergessen, was es war …“ Kann man besser beschreiben, daß Cohn ein aufgeblasener Pinsel war und Jake (Hemingway) seine Gedanken in dem Moment woanders hatte, zum Beispiel bei der von allen angehimmelten Brett.
„Um über das Leben zu schreiben“, sagt er, „mußt du es zuerst leben.“
Zum Beispiel „A Farewell to Arms“, den er 1929 veröffentlichte, der wichtige zweite Hit nach „Fiesta“, der ihn finanziell endgültig unabhängig machte und dessen Filmrechte er für 25.000 Dollar verkauft hatte, dieser Film also mit Rock Hudson und Jennifer Jones, der Kriegsroman, in dem Hem seine unglückliche Liebesgeschichte zu einer englischen Krankenschwester an der italienischen Front beschrieb.
Überhaupt: Sein Werk läßt sich anhand der Kinoplakate erzählen, die in seinem Haus in Key West hängen. Da ist „For Whom the Bell Tolls“ (Wem die Stunde schlägt) mit Gary Cooper und Ingrid Bergmann, seine Erlebnisse aus dem Spanischen Bürgerkrieg, in den er als Reporter zog.
War Hem links? Nun, er nahm in seinem Roman die skrupellosen Sowjetoffiziere genauso aufs Korn wie die Falangisten, und er erzählte ohnehin nicht von Ideologien, sondern von männlichem Opfermut, von Ehre und Liebe, von seiner Herkunft war er eher konservativ.
Dann, nicht zuletzt, „To Have and Have Not“ mit Humphrey Bogart, diese Kurzgeschichten um den versoffenen Skipper Henry Morgan, die er zu einem Roman montiert hatte – das Drehbuch stammte von Faulkner und hatte kaum etwas mit der Vorlage zu tun. Egal, Morgan ist ein krummer Typ, der seine Familie durchbringen muß und sich auf Gangster einläßt. In allen Filmen wurde Hemingway selbst mitgedacht und überblendet. Er wuchs zum populären Mythos, eine Figur der silver screen, ein Stern im Himmel, der mit anderen Sternen leuchtete – auf Kuba, der nächsten Station mit der nächsten Frau, der Journalistin Martha Gellhorn, schwamm Ava Gardner in seinem Pool, Jayne Mansfield schenkte ihm zum Geburtstag Flamingos.
Da ist das Foto mit Spencer Tracy, sie verstanden sich prächtig und tranken den von Hem selber kreierten Daiquiri „Papa Doble“. Hemingway-Figuren sind sonderbare, wortkarge Helden, Männer mit Würde, die wissen: Mut, das ist Haltung in Todesgefahr, „Grace under pressure“.
Zwischendurch Safaris in Afrika, auf denen seine schönsten Kurzgeschichten entstanden. Pauline, die Zierliche, erlegt einen Kudu-Bock und Hem schreibt den Nachruf: „Er roch rein und wunderbar wie der Atem von Vieh und der Geruch von Thymian nach dem Regen.“
Und ihm gelingt die Geschichte „Das kurz, glückliche Leben des Francis Macomber“ (1936), der vor einem angeschossenen Löwen ausreißt, zur größten Verachtung seiner Frau, der sich aber am nächsten Tag mutig einem Bullen stellt. Kurz bevor er ihn töten kann, wird er „versehentlich“ von seiner Frau erschossen, die sich in den Großwildjäger Wilson verliebt hat und die für einen Gatten, der seinen Mut und seine Selbstgewißheit wiedergefunden hat, keine Verwendung mehr hat.
Die zynische, sentimentale, stolze Geschichte einer Rettung: der Rettung des männlichen Selbstbildes als Held.
Hemingway suchte Todesnähe sein Leben lang. Er mochte den Krieg, wie er einmal seinem Verleger schrieb, aus einem einfachen Grund. „Da besteht jeden Tag und jede Nacht die große Wahrscheinlichkeit, daß man getötet wird und nicht mehr schreiben muß.“
Getötet werden, um nicht mehr zu schreiben. Gleichzeitig nennt er das Schreiben die einzige Tätigkeit, die ihn glücklich macht. Der Tod und das Schreiben sind die Konstanten dieses übervollen Lebens, alles andere ist Ablenkung und Lärm und Zufall.
Er war depressiv, die Elektroschock-Behandlungen, denen er sich in der Mayo-Klinik aussetzte, taten nichts, um seinen Zustand zu erleichtern, im Gegenteil: Sie löschten seine Erinnerungen. Und was ist ein Mann, der sechzig geworden ist und ein derartiges Leben geführt hat ohne diese, und dem die „wahren Sätze“ nicht mehr gelingen?
Knapp vier Jahrzehnte und acht Romane und unzählige Reportagen und Kurzgeschichten und drei Ehen und einen Nobelpreis später, ging es dann doch schnell. Er tappte hinunter in die Diele in seinem Haus in Idaho, barfuß, im Morgenmantel, setzte die doppelläufige Schrotflinte an. Er war so alt wie sein Jahrhundert.
Der Jäger erlegte sich selbst.
Nur wenige Jahre vor seinem Ende schrieb Hemingway auf Kuba diese wohl schönste Geschichte über das Angeln, die gleichzeitig eine über Mut und Opferbereitschaft ist, über den Lebenskampf und den Tod. Es ist die Geschichte über den Mann schlechthin, und sie beginnt mit den Worten: „Er war ein alter Mann, der allein in einem kleinen Boot im Golfstrom fischte, und er war jetzt vierundachtzig Tage hintereinander hinausgefahren, ohne einen Fisch zu fangen.“
Die Erzählung „Der alte Mann und das Meer“, 1952 erschienen, kongenial verfilmt mit Spencer Tracy, schildert einen epischen Kampf zwischen Mensch und Kreatur, in dem es um viel mehr geht als um die Beute, sondern, wie in dem gewaltigen Vorläufer „Moby Dick“, um alles, um Ehre und Stolz, um die Seele und den Sinn des Lebens. „Du tötest mich, Fisch, dachte der alte Mann. Aber dazu bist du berechtigt. Niemals habe ich etwas Größeres und Schöneres oder Ruhigeres oder Edleres gesehen als dich, Bruder. Komm nur und töte mich. Mir ist es gleich, wer wen tötet.“
So klingt eine Geschichte, die aus lauter wahren Sätzen besteht. Hemingway erhielt dafür den Pulitzerpreis und 1954 den Literaturnobelpreis. Es sind nur 26.500 Wörter, doch die bilden ein Weltepos. Das Literaturmagazin Life druckte sie in einer Ausgabe. Der alte Santiago stirbt fast in seinem Kampf mit dem gigantischen Schwertfisch, Haie bringen ihn schließlich um seine Beute. Er kehrt zurück mit Wundmalen an den Händen, die ihm die Angelsehne gerissen hat, und er schleppt noch den Mast hinauf zu seiner Hütte, wie es der Brauch ist, und er fällt auf dem Weg hin wie Christus unter dem Kreuz.
Dann schläft er wie ein Toter ein und steht am nächsten Tag wieder auf, um zu erzählen. In einfachen, wahren Sätzen.
Foto: Großschriftsteller Ernest Hemingway (1899–1961) beim Schreiben in einem Zeltlager in Kenia, um 1953: Einfach klare Sätze
Ernest Hemingway: Der alte Mann und das Meer. Rowohlt, Hamburg 2014, broschiert, 160 Seiten, 12 Euro