© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30/24 / 19. Juli 2024

CD-Kritik: Jessye Norman
Grenzen einer Großen
Jens Knorr

Von Jessye Norman nicht freigegebene Bänder hat Decca auf drei CDs veröffentlicht, an denen eingefleischte Verehrer der großen Sängerin selbstverständlich nicht vorbeikommen: Konzertmitschnitte der „Vier letzten Lieder“ von Strauss (1989) und der Wesendonck-Lieder von Wagner (1992) mit den Berliner Philharmonikern unter James Levine, die „Scena di Berenice“ von Haydn, „Cléopâtre“ von Berlioz und „Phaedra“ von Britten mit dem Boston Symphony Orchestra unter Seiji Ozawa (1994) sowie Aufnahmesitzungen von Szenen aus Wagners „Tristan und Isolde“ mit dem Gewandhausorchester Leipzig unter Kurt Masur (1998).

Im Vergleich zu den Referenzaufnahmen der Wesendonck-Lieder (1975) und der „Vier letzten Lieder“ (1982), mit denen Norman berühmt wurde, sind neben Momenten schönster Binnendifferenzierung auch schon brüchige und verhauchte und in der Höhe flattrig-dünne Phrasen sowie in den Kantaten und den „Tristan“-Szenen stimmliche Überanstrengung nicht zu überhören. Von der Partie der Isolde hat sich Norman diesseits des „Liebestodes“ in kluger Einsicht ferngehalten, von einigen anderen Opernpartien leider nicht. Aber selbst in den Aufnahmen, die ihren Qualitätsstandards nicht genügten, ist die „Schwarze Göttin“ so vielen anderen Stimmen überlegen, die wir unseren Ohren zuzumuten uns angewöhnen mußten. Die Selbstkritik Normans macht die Sängerin nicht kleiner, die Kenntnis ihrer unveröffentlichten Aufnahmen erst läßt ihre Arbeit an den veröffentlichten erkennen und bewundern.

Jessye Norman The Unreleased Masters Decca 2023, www.deccaclassics.com