© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30/24 / 19. Juli 2024

GegenAufklärung

Die Auseinandersetzung um den „Wolfsgruß“ eines türkischen Fußball-Nationalspielers auf deutschem Boden hat fast eine diplomatische Krise heraufbeschworen. Ganz so dramatisch lief es nicht angesichts des „Doppeladlers“, der sich unter albanischen Fußballern und Fans großer Beliebtheit erfreut. Aber man sieht daran, wie sensibel die Obrigkeit nicht nur auf verbotene Worte, sondern auch auf verbotene Zeichen reagiert. Das gilt für die der Fußballwelt wie die der deutschen Republik. Wobei der Überblick im zweiten Fall nur noch schwer aufrechtzuerhalten ist. Die immer weiter anwachsenden Verzeichnisse dessen, was präsentiert, was unter bestimmten Umständen präsentiert und was nicht präsentiert werden darf, sind mittlerweile so seitenstark, daß wahrscheinlich ganze Abteilungen des Verfassungsschutzes (auf Landes- wie Bundesebene) mit der Erstellung und Erweiterung befaßt sind. Man kann zur Erklärung wahlweise Neigung zur Schikane oder deutsche Regelungswut heranziehen oder auf einen sehr alten Impuls des Menschen kommen: die Festlegung von Tabus. Dahinter stand seit je ein System der Machthaber zur Beherrschung der Gemüter, indem man die Vorstellung verankerte, daß Aussprechen oder Vorweisen unter Umständen eine magische Konsequenz hat, die das Wirklichkeit werden läßt, was solchermaßen beschworen wurde, und daß diese Wirklichkeit unheilvoll ist, weshalb das Tabu unter allen Umständen aufrechterhalten und der Bruch streng bestraft werden muß.

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Reinhard Mohr hat in einem Beitrag für die Welt (Online-Ausgabe vom 5. Juli) über seine kindlichen Eindrücke bei Frankreichreisen in den frühen 1960er Jahren berichtet. Vieles davon ist amüsant, manches auch lehrreich, aber bedrückend doch die Bemerkung, daß man unbedingt vermeiden wollte, als Deutscher erkannt zu werden. Entsprechende Bemerkungen haben schon andere gemacht, die in der Nachkriegszeit heranwuchsen – erwähnt seien Hans Ulrich Gumbrecht oder Karl Heinz Bohrer –, weshalb es sich um mehr als eine individuelle Befindlichkeit handeln dürfte. Hier hat man es mit der unmittelbaren Wirkung der Kollektivschuldlüge zu tun.

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Man muß die Sauregurkenzeit und das mit ihr verbundene Einschlafen der Politik zu derselben Kategorie von Welträtseln rechnen wie die Tatsache, daß jeden Tag genauso viel passiert, wie in die Zeitung paßt.

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„Deutschlands Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang spricht von einer ‘wachsenden Sensibilisierung’ für das Thema Extremismus, die auch zu einer ‘erhöhten Meldebereitschaft’ geführt habe. Genau diese Bereitschaft stellt jedoch ein weiteres Problem dar: Meldeportale für Meinungsäußerungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze laden die Bürger förmlich zur Denunziation ein und schaffen ein Klima des Verdachts. Auch um die Justiz ‘kümmere man sich’, hatte Faeser im Februar angekündigt. Denn diese gehöre erfahrungsgemäß zu den ersten Zielen rechter Unterwanderung. Hat ‘man’ sich um die Justiz erst ‘gekümmert’, dann sind unverhältnismäßige Entscheidungen von Behörden womöglich nicht einmal mehr von unabhängigen Gerichten rückgängig zu machen. Die Mosaiksteinchen fügen sich zum Bild eines Staates, der immer repressiver auftritt, den Bürgern mißtraut und ihnen noch einreden will, daß alles zu ihrem Besten geschehe. Mit zweierlei Maß wird vor allem dann gemessen, wenn die AfD ins Spiel kommt.“ (Fatina Keilani in der Neuen Zürcher Zeitung, Online-Ausgabe vom 4. Juli 2024)

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Zu den verstörenden Eindrücken bei einer Reise durch Litauen gehört, daß Menschen in Restaurants, auf Parkbänken, an Bushaltestellen oder in Zügen sitzen und ungeniert Bücher lesen.

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Wie zwecklos alle Propaganda für Body Positivity ist, ist schon daran zu erkennen, daß es einen Schwarzmarkt für Abnehmspritzen gibt.

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Am 29. Juni ist der Journalist, Literaturkritiker und Buchautor Jürgen Busche in seinem 80. Labensjahr verstorben. Die Nachrufe waren respektvoll, allerdings doch so gehalten, daß man wenig von dem wahrnahm, was wenigstens in den 1980er Jahren ganz wesentlich zu Busches Renommée beigetragen hat. Die Rede ist von dessen polemischem Talent. Als Beispiel mag sein Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. März 1984 dienen – Überschrift „So treibt man Schindluder“ –, der sich mit der geplanten Verabschiedung des „Auschwitzlüge-Gesetzes“ befaßte. Der Text löste eine wochenlange Debatte nicht nur in den Leserbriefspalten, sondern in der Presse insgesamt aus. Denn mit scharfen Worten geißelte Busche damals ein „absurdes“ Projekt, für das es „in der zivilisierten Welt“ kein Beispiel gebe. Es sei „grotesk“, daß das Vorhaben von den Liberalen unterstützt werde, obwohl mit dem Verlangen, das Aufstellen einer Falschbehauptung müsse unter Strafe stehen, einer ihrer wichtigsten Werte – das Recht auf freie Meinungsäußerung – erledigt sei. Sollte sich eine Mehrheit im Bundestag finden, müsse man fürchten, daß kommende Generationen kopfschüttelnd fragten, welcher Grad der Intoleranz das Klima in der Bundesrepublik bestimmt habe.



Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 9. August in der JF-Ausgabe 33/24.