Zu Zeiten, da gesellschaftlich wenig gelernt werden kann, haben es die transitorischen Künste schwer, Künste wie Musik und Theater, und ganz sicher Musiktheater. Inszenierung taugt nicht zur Flaschenpost, um in anderen Zeiten entsiegelt zu werden und Wirkung zu entfalten, ihre Dokumentation aber immerhin zum Lehrmaterial.
Bis in die frühen 1990er Jahre hat das Regietheater, bewundert viel und viel gescholten, Leistungen von musikhistorischer Bedeutung hervorgebracht, immer dann nämlich, wenn es gelang, das Verhältnis von Partitur, Interpreten und Publikum aktuell zu bestimmen, dunkle Vergangenheit die Gegenwart erhellen und für rare, glückhafte musiktheatrale Momente eine hellere Zukunft aufscheinen zu lassen. Ging es dem Regietheater um Veränderung des Zuschauerverhaltens als Weltverhalten, so geht es dem Post-Regietheater um Erkämpfen und Behaupten eines Status’ im Musikgeschäft einer für unveränderbar geglaubten Welt. Anstatt Partituren zu lesen und das in ihnen gesellschaftlich Vermittelte auszulegen, unterlegen ihnen seine Vertreter persönliche Betroffenheit. Ihre Inszenierungen sind Selbstinszenierungen. Was bleibet aber, stiften Agenturen und Musikkonzerne.
Die Bilder vermögen keine sinnbildliche Kraft zu entfalten
Für ihre Neuinszenierung von Richard Wagners Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ hatte sich die Wiener Staatsoper russischer Dissidenz versichert, die in der Nachbarschaft offenbar nicht aufzutreiben war. Den Mitschnitt aus dem Jahr 2021 veröffentlichte Sony in opulent aufgemachter Buch-Box, in ihrer Aufmachung mit einem Merchandise-Produkt leicht zu verwechseln. Das Buch enthält auf 283 Seiten das Libretto in Deutsch und in englischer Übersetzung, das übliche konzeptionelle Allvergessen, Eingedenken aus Wissenschaft und Praxis, eine Handlungserzählung des Regisseurs Serebrennikow sowie Inszenierungsphotographien, nicht zu vergessen eine zweiseitige Werbung für die bisher erschienenen CDs des allerwegen als Startenor gehandelten Jonas Kaufmann.
Kirill Semjonowitsch Serebrennikow, 1969 in Rostow am Don geboren, künstlerischer Leiter des – inzwischen abgewickelten – Moskauer Theaters Gogol-Zentrum, stand zur Zeit der Inszenierung unter Hausarrest. Er war vom Moskauer Bezirksgericht der Veruntreuung staatlicher Fördergelder schuldig gesprochen und zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt worden – das weltweit verbreitete Verfahren, politische Verfolgung als wirtschaftliche Strafsache zu camouflieren. Das wiederum wertet persönliches Schicksal und künstlerischen Status wechselseitig auf: Der verfolgte erscheint als der wahre Künstler, die verfolgte als die wahre Kunst. Die Wiener Inszenierung wurde mittels Videokonferenz-Schaltungen erarbeitet, die wegen der staatlichen Covid-19-Maßnahmen publikumslose Premiere vom ORF aufgezeichnet und gesendet.
Da lag wohl nichts näher, als den ersten und dritten Aufzug in einem Gefängnis spielen zu lassen, den zweiten in dem Redaktionsbüro eines Printmagazins. Nur müssen beide Einfälle zu ihrer Rechtfertigung bebildert, die Milieus permanent weiter bedient werden: „Das erste steht uns frey, beim zweyten sind wir Knechte.“ Die Bilder vermögen keine sinnbildliche Kraft zu entfalten, sondern mißraten parodistisch.
Einer der Häftlinge in der Haftanstalt Monsalvat verletzt sich permanent selbst und hört sich inneren Stimmen ausgeliefert, insbesondere einer in der Stimmlage Baß. Eine Journalistin versorgt die Häftlinge mit Nachrichten und Medikamenten, ein Häftling verliert sich in endlosem Geschwätz, ein Namenloser tötet einen, den die andern „junger Schwan“ nennen. Angeführte Journalistin hatte ein Verhältnis mit dem Herausgeber des Magazins, vordem eines mit dem Selbstverletzer und vorzeiten eines mit dessen innerer Baßstimme und hätte gern eines mit dem Namenlosen, dem sie seinen Namen steckt: Parsifal. Der tut aber nichts, der will nur erlösen. Nach der zweiten Pause findet sich das gealterte Personal in gealterter Haftanstalt zusammen, verzeiht sich dies und jenes und erlöst sich gegenseitig von diesem und jenem.
Das solipsistische Spektakel, das sich obendrein noch als Rückblick des alten auf den jungen Parsifal präsentiert, legt keineswegs das wirklich Gewollte unter Staubschichten tradierter Sichten frei, sondern lediglich eine neue darüber. Es macht keine Vorgänge hinter den Vorgängen sichtbar, wie sie Wagner seinerzeit mit dem Mythos – „Verhältnisse, nichts als Verhältnisse!“ – sichtbar und hörbar zu machen gedacht hat, sondern mystifiziert den Mythos mit den ausgelutschten Mitteln des Post-Regietheaters. Raum und Zeit können nicht zu „Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung“ im Sinne Kants werden.
Sowenig allein aufgrund der Materialien und des Videostreams über die Inszenierung abschließend geurteilt werden kann, ebensowenig dürfte die enttäuschende musikalische Ausführung ohne diese kaum zu erklären sein. Den Elogen auf die musikalische Qualität der Aufnahme kann sich der Rezensent nicht anschließen:
„Wir sagten: in der Oper müßte man etwas sehen – weil uns die Musik nicht erfüllt; hier wird also das Gehör depotenziert, – nicht mehr die Musik intensiv zu vernehmen. Umgekehrt müßte eine Musik das Sehen so begeistern können, daß es die Musik in Gestalten sähe“, geht eine Notiz aus dem Nachlaß Richard Wagners. Das neutrale Spiel der Wiener Philharmoniker unter dem Dirigat von Philippe Jordan gibt auf der Hörbühne weder Musik noch Gesang Gestalt, noch nicht einmal die eines Gefängnisses oder einer Zeitungsredaktion.
Was dem äußeren Auge vorenthalten bleiben muß, baut sich vor dem inneren Auge nicht auf. Es läuft ein Soundtrack, dem der Film abhanden gekommen zu sein scheint. Es singen Gesangsstars, aber kein Starensemble, dessen jedes Mitglied in vielen Bühnenvorstellungen eine Rolle erfaßt und durchdrungen hätte und ins Spiel zu bringen und aufs Spiel zu setzen suchte. Sie illustrieren Wörter, leise oder laut, sanft oder hart, lyrisch oder dramatisch, geben aber ihren Sätzen keine Richtung. Sie zeichnen Gemütszustände nach, fördern aber deren Beweggründe nicht zutage. Sie dramatisieren, vergegenwärtigen aber keine szenischen Situationen, in welchen sich die Figuren, denen sie ihre Stimmen geben, zu bewähren, ihre Interessen in Handlungen auszutragen hätten. Ihr Drama auf der Klangbühne fällt aus.
Die einzelnen Stimmen kommen nicht zusammen
Jonas Kaufmann als der herausgestellte Tenorstar der Produktion laviert unbestimmt zwischen „deutschem Belcanto“ eines Richard Wagner und „German bark“ eines Julius Kniese, dem Stimmbildner während der Herrschaft Cosimas auf dem Grünen Hügel. In der Partie des Parsifal kulminieren die stimmtechnischen Probleme des späten Kaufmann, die er in seiner Karriere eher zu kaschieren denn zu lösen gelernt hat. Im Bestreben, seiner Stimme heldischen Kern zu verleihen, versteift Kaufmann die Tonemission und nimmt ihr die Fähigkeit, Töne zu Linien zu binden und zu färben. Er reiht Töne aneinander und verfärbt Vokale zu einem Einheitsvokal, beschränkt die Dynamik auf ein Einheits-Forte, das er zurückgenommen für ein Piano ausgibt. Die groß berechneten Ausbrüche der Figur vermag die eng und kehlig geführte Stimme nicht zu erfüllen.
Elīna Garanča reduziert die Vielgestalten der Kundry auf die Zuschreibungen, die sie durch die Männergesellschaft – sowohl des gotischen als auch des arabischen Spaniens – erfährt, ohne ihnen entgegenarbeiten zu wollen. Garanča geht voll auf Risiko, bei weit geöffneter Stimme flattern gehaltene Töne ins Vibrato aus, hohe Töne rutschen aus dem Fokus. Zum Ende des zweiten Aufzugs treibt sie ihren Mezzosopran weit über seine Grenzen hinaus. Daß Kundry nur schreien, wüten, toben, rasen könne, hat Wagner keineswegs als Auftrag an die Interpretin verstanden.
Ludovic Tézier singt Amfortas mit überhitztem, nicht immer kontrolliertem Gestus, Wolfram Koch singt Klingsor mit leichten Buffo-Anwandlungen. Georg Zeppenfeld, ein idealer Sänger des Gurnemanz, könnte diese Partie zu einem Meilenstein der Interpretationsgeschichte machen, wenn es ihm zu zeigen gelänge, daß Gurnemanz’ Erzählungen, von den Fragen der Knappen herausgefordert, dieses eine nicht wie jedes Mal, sondern zu unbedingten Selbstbefragungen geraten. Das Sextett der Blumenmädchen klingt stimmlich wenig aufeinander abgestimmt, die Chöre klingen ungenau und bräsig.
Doch wie gut auch immer jeder einzelne für sich singen mag, sie kommen nicht zusammen, sie singen nebeneinanderher, und es stellt sich die zugegeben provokante Frage, ob es am musikalischen Verlauf und Sich-Verlaufen irgend etwas änderte, wenn eine Stimme durch eine andere, gleichwertige ersetzt würde. Nur, wider die Mäkelei des Kritikasters: Welche gleichwertigen Stimmen stünden denn bereit? Zieht man ältere Tondokumente zu Rate, stellt sich die ebenso provokante Frage, warum ehedem Sänger mit viel weniger reichen stimmlichen Mitteln stimmdarstellerisch so viel mehr erreichen konnten. Vielleicht weil sie das Wagnersche Welttheater nicht auf ein Knasttheater herunterzubrechen hatten, bespielt von irgendwie irgendwann ins falsche Milieu abgerutschten bemitleidenswerten Figuren. Und vielleicht auch weil Wagners Bühnenweihfestspiel anderes und mehr meint als jene Bilder, die von nicht in Abrede zu stellenden Nöten des russischen Dissidenten handeln, auf dem Wiener Theater jedoch nur falsche Authentizität und Aktualität vorspiegeln.
Die stillgestellte Zeit kann nicht Raum greifen, geschweige denn zum Raum werden. Serebrennikows und Jordans mythologische Maschine läuft leer.
Foto: Jonas Kaufmann singt die „Parsifal“-Titelrolle, Elina Garanča verkörpert Kundry: Die Gesangsstars zeichnen Gemütszustände nach, fördern aber deren Beweggründe nicht zutage
Richard Wagner Parsifal Sony Classical 2023 www.sonyclassical.de