© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30/24 / 19. Juli 2024

Indien – Supermacht in spe?
Verrenkte Region
Erich Weede

Auf dem indischen Subkontinent lebt gut ein Fünftel der Menschheit, vorerst noch mehr als in Afrika, fast viermal so viele Menschen wie in der Europäischen Union. Der oberflächliche Beobachter kann den westlichen Teil Südasiens für eine Zone des Friedens und in Anbetracht des Wirtschaftswachstums Indiens, des inzwischen volkreichsten Landes der Erde, sogar für eine zwar noch arme, aber schnell wachsende Region halten. Dabei werden allerdings beachtliche Konfliktpotentiale übersehen, die sich auch überraschend entladen könnten. 

Die beiden häufigsten Kriegsgründe entstehen entweder aus dem Sicherheitsdilemma oder dem Abgrenzungsdilemma. Ein Sicherheitsdilemma besteht immer dann, wenn zwei Staaten zur Kriegführung gegeneinander in der Lage sind – zumindest bei Nachbarn ist das fast immer gegeben – und keine übergeordnete Instanz dazu in der Lage ist, das zu verhindern. Lange Friedensperioden können dazu beitragen, daß der andere Staat nicht als bedrohlich empfunden wird. Je kürzer aber die Zeit seit der letzten militärischen Auseinandersetzung, desto eher wird jeder Staat versuchen, „Sicherheit durch Überlegenheit“ oder „Frieden durch Stärke“ zu erlangen. Es ist undenkbar, daß zwei Kontrahenten das gleichermaßen erreichen.  

Die Hintergrundbedingungen eines Abgrenzungsdilemmas sind vielfältig. Grenzen werden oft nach Kriegen verschoben. Der Sieger annektiert, der Verlierer muß Gebiete abtreten. In der Regel dauert es mehr als eine Generation, manchmal viel länger, bis der Verlierer sich mit seinen Verlusten abgefunden hat. Auch sehr lange stabile Grenzen können dennoch umstritten sein, wenn der Grenzverlauf nicht mit den ethnischen, sprachlichen oder sogar religiösen Grenzen übereinstimmt. Hinzu kommt, daß manchmal ethnisch, sprachlich oder religiös definierte Gruppen so durcheinander siedeln, daß eine eindeutige und allgemein akzeptable Grenzziehung unmöglich wird, weil die Beherrschung einer Gruppe durch eine andere oder Enklaven und Exklaven auf Dauer fast nie akzeptiert werden. 

Auf dem indischen Subkontinent und an seinen Grenzen sind die aus dem Sicherheitsdilemma und dem Abgrenzungsdilemma resultierenden Kriegsgründe reichlich vorhanden. Wenn man von den vorgelagerten Inseln absieht, dann besteht der Subkontinent aus fünf Staaten, wobei Fläche und Bevölkerungszahl zur gleichen Reihenfolge nach der Größe führen: Indien, Pakistan, Bangladesch, Nepal und Bhutan. Die ersten drei Staaten gehörten bis 1947 zum britischen Kolonialreich, die zuletzt genannten Staaten im Himalaja waren zwar unter britischem Einfluß, de jure aber selbständig. Als die britischen Kolonialherren sich aus ihrer armen, aber volkreichen Kolonie zurückzogen, wollten die Muslime keinen gemeinsamen Staat mit den zahlreicheren Hindus teilen. Daß in der Kolonialzeit die Hindu-Eliten noch recht säkular und religiös tolerant waren, änderte nichts daran, daß die Muslime  beziehungsweise deren Wortführer einen eigenen Staat, nämlich Pakistan, verlangten. Pakistan bestand zunächst aus zwei Landesteilen: Westpakistan und Ostpakistan. Beide Landesteile waren circa 1.800 Kilometer voneinander entfernt und durch indisches Gebiet getrennt. 

Weil Hindus und Muslime jahrhundertelang durcheinander lebten, war eine beiderseits befriedigende Grenzziehung nicht denkbar. Jede denkbare Grenzziehung mußte dazu führen, daß Minoritäten der einen Religion von Majoritäten der anderen Religion beherrscht werden. Der Preis der Verringerung dieses Problems war die Massenflucht oder Vertreibung eines Teils der Bewohner. Im Zuge der Gründung und Abgrenzung von Indien und Pakistan  haben mehr als zehn Millionen meist bitter arme Menschen ihre Heimat verlassen und sich unter Glaubensgenossen neu angesiedelt. Das muß zur Verfestigung von Armut und Elend beigetragen haben. Trotzdem leben heute noch circa 172 Millionen oder gut 14 Prozent Muslime in Indien, 13 Millionen oder fast acht Prozent Hindus in Bangladesh, das bis 1971 zu Pakistan gehörte. Nur in Pakistan kann die verbleibende Minderheit an Hindus mit vier Millionen oder zwei Prozent als klein bezeichnet werden. In der Kolonialzeit war der Staat säkular und neutral zwischen Hinduismus und Islam. In den Nachfolgestaaten spielte die Religion eine bedeutsamere Rolle, zunächst in Pakistan, in den letzten Jahrzehnten zunehmend auch in Indien, das sich unter Modi und der regierenden BJP zunehmend von einem säkularen zu einem hinduistischen Staat entwickelt. 

Hauptgrund für die Grenzstreitigkeiten zwischen Indien und Pakistan ist Kaschmir, ein mehrheitlich muslimisches Gebiet im Himalaja. In der Kolonialzeit hatte dessen hinduistischer Herrscher eine gewisse Autonomie. Bei der Teilung am Ende der Kolonialzeit optierte er für Indien. Innerhalb Kaschmirs kam es nach einer militärischen Auseinandersetzung zu einer faktischen Teilung, wobei Pakistan den kleineren nordwestlichen Teil und Indien den Rest Kaschmirs unter seine Kontrolle brachte.

Die muslimische Mehrheit der Bevölkerung vor allem im zentralen Kaschmirtal hat das im Gegensatz zu den Buddhisten im Nordosten, in Ladakh, und den Hindus im Süden, in Jammu, nie akzeptiert und mehrfach gegen die indische Herrschaft rebelliert. Man kann sagen, daß die Kontrolle über Kaschmir seit der Existenz von Indien und Pakistan der Hintergrund für die fast permanente Kriegsbereitschaft beider Staaten gegeneinander ist. Es ist auch mehrfach schon zu kurzen Kriegen zwischen Indien und Pakistan gekommen. Weil sowohl Indien als auch Pakistan seit dem Ende des 20. Jahrhunderts über Atomwaffen verfügen, ist der maximal denkbare Schaden künftiger Kriege zwischen beiden dicht besiedelten Staaten katastrophal. 

Indien rivalisiert nicht nur mit Pakistan, sondern auch mit China. Beide Länder haben im Himalaja eine lange und umstrittene Grenze miteinander. 1962 ist es erstmalig zu einem kurzen Grenzkrieg zwischen beiden Staaten gekommen, aus dem Indien gedemütigt hervorging. Seitdem kann der Verlauf der Gebirgsgrenze zwischen Indien und China als Hintergrund nicht nur für kleinere Zwischenfälle gelten, sondern auch als potentieller Auslöser für einen Krieg zwischen den beiden nuklear bewaffneten demographischen Riesen der Welt. Die Konflikte zwischen Indien und seinen beiden Nachbarn China und Pakistan sind auch miteinander verknüpft. Obwohl Pakistan während des kalten Krieges im Gegensatz zum blockfreien Indien lange ein Verbündeter der USA war, hat die gemeinsame Rivalität mit Indien zu einer Annäherung von Pakistan und China geführt. Die enge militärische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen China und Pakistan wird durch eine gemeinsame Grenze im Norden des pakistanischen Teils von Kaschmir erleichtert. 

Verglichen mit den indisch-pakistanischen Beziehungen sind die zwischen Indien und Bangladesch, dem ehemaligen Ostpakistan, recht gut. Das hängt damit zusammen, daß Bangladesch sich 1971 von Pakistan trennte, damit seine Identität weniger auf den Islam als auf die bengalische Volkszugehörigkeit gründete. Obwohl es bisher keine Anzeichen dafür gibt, daß die circa 102 Millionen Bengalen in Indien und die etwa 171 Millionen Bengalen in Bangladesch einen gemeinsamen Staat bilden wollen, ist zumindest denkbar, daß die Akzentuierung der kulturellen und sprachlichen Nähe der Bengalen beiderseits der Grenze künftig Probleme aufwerfen könnte, falls die Prägung beider Länder durch Hinduismus oder Islam einmal an Bedeutung verlieren sollte. 

Am Ende der Kolonialzeit waren die meisten Menschen im späteren Indien oder Pakistan arm oder bitter arm. Bangladesch galt, als es unabhängig wurde, geradezu als hoffnungsloser Fall. Inzwischen ist das Pro-Kopf-Einkommen, genauer das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, in Indien und Bangladesch recht ähnlich. Zu den gängigen Umtauschkursen liegt oder lag Bangladesch zeitweise vor Indien, bei Berücksichtigung der Kaufkraft liegt Indien vor Bangladesch. Beide liegen deutlich vor Pakistan, was vor wenigen Jahrzehnten noch anders war. Die indische Volkswirtschaft war noch vor 20 Jahren nur fünf- bis sechsmal so groß wie die pakistanische, jetzt ist sie circa elfmal so groß. Sie wächst immer noch schneller. Pakistan leidet unter hoher Auslandsverschuldung. Es ist nicht abzusehen, ob und wie diese Schulden finanziert werden können.

Hinzu kommt politische Instabilität in Pakistan, zu der auch Aufständische in Belutschistan und den an Afghanistan grenzenden Stammesgebieten beitragen. Außerdem leidet Pakistan unter relativ schwereren Verteidigungslasten als Indien, obwohl sich das bei den Vereidigungsausgaben relativ zur Wirtschaftsleistung weniger zeigt als bei der Mannschaftsstärke der Streitkräfte. Bei einer sechs- bis siebenmal so großen wehrfähigen Bevölkerung beschäftigt Indien nur etwas über doppelt so viele Menschen wie Pakistan in seinen Streitkräften.  Der britische Economist hat Pakistan schon als „semi-failed state“ bezeichnet. Die machtpolitische Rivalität zwischen beiden Staaten müßte deshalb eigentlich auslaufen, zumal Indien im Gegensatz zu Pakistan wohl bereit wäre, die gegenwärtige Militärgrenze in Kaschmir als endgültige Grenze zwischen beiden Staaten zu akzeptieren. 

Für die künftige wirtschaftliche Entwicklung der süd-asiatischen Staaten sind auch die Beziehungen zum Westen – wegen des Handels, der Investoren und der Einbeziehung in globale Lieferketten – von Bedeutung. Auch da liegt Indien vor Pakistan, weil es seine Beziehungen zu den USA in den letzten Jahrzehnten verbessert hat und in Amerika zunehmend als Gegengewicht zu China gesehen wird. In dieser Beziehung hat Indien noch einen langen Weg vor sich. Noch dürfte seine Wirtschaftskraft erst in der Nähe eines Fünftels der chinesischen liegen. Bei annähernd gleicher Bevölkerungsgröße von Indien und China muß dasselbe für die Durchschnittseinkommen gelten. 

Während die ersten Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit von der indisch-pakistanischen Rivalität und mehreren Kriegen zwischen beiden Staaten geprägt waren, dominiert jetzt die indisch-chinesische Rivalität, in die Pakistan allerdings durch die enge Zusammenarbeit mit China eingebunden ist. Vorerst ist Indien noch die fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Erde, aber es hofft, in wenigen Jahren Japan und Deutschland zu überholen und dann mit den USA und China zu den großen Drei in der Welt zu gehören. 

Ob Indien den angestrebten Sprung in die Führungsspitze der Weltwirtschaft schafft, hängt auch davon ab, ob es mit den latenten inneren Spannungen fertig wird. Die Regierung Modi hat die Wahlen im April und Mai zwar nicht mit der erhofften überwältigenden Mehrheit gewonnen, sondern sogar Verluste an Parlamentssitzen hinnehmen müssen, aber genug Stimmen gewonnen, um in einer Koalition mit verbündeten Parteien an der Macht zu bleiben. Die Regierungspartei hat ein doppeltes Gesicht. Einerseits beanspruchen Modi und seine Partei Wirtschaftskompetenz, andererseits ist die Partei hindu-nationalistisch, was sich bei einer Politik gegenüber Muslimen äußert, die von diesen als diskriminierend empfunden wird. Das äußert sich auch in dem Versuch, Hindi als Staatssprache in ganz Indien durchzusetzen. Aber ungefähr jeder zweite Inder spricht kein Hindi und versteht Hindi gar nicht oder kaum. Die südindischen Sprachen gehören im Gegensatz zu Englisch, Deutsch oder Hindi nicht einmal zur indoeuropäischen Sprachfamilie. Für den Süden Indiens ist deshalb der Versuch, Hindi anstelle des kolonialen Erbes Englisch als Amts- und Wirtschaftssprache durchzusetzen, eine Zumutung. 

Mit Englisch hat man Zugang zum Weltmarkt, mit Hindi hat der Südinder nur Zugang zum armen Nord-indien. In Teilen Nordindiens betragen die Einkommen und die Wirtschaftskraft nur ein Viertel des südindischen Wertes. Informationstechnologie und Auslandsinvestitionen gibt es mehr im Süden als im Norden. Dort gibt es mehr Menschen und vor allem mehr Kinder, schlechtere Ausbildung, niedrigere Löhne, mehr Armut, noch mehr Arbeitslosigkeit, mehr Konflikte zwischen Hindus und Muslimen, aber stärkeren Zuspruch für die Regierungspartei. Weil sich der reichere Süden bei der Verteilung der Steuern durch die Zentralregierung benachteiligt fühlt, ist reichlich politisches Konfliktpotential vorhanden. Vorerst kann die Regierung Modi das dank des schnellen Wachstums trotz hoher Jugendarbeitslosigkeit überdecken.

Nicht vergessen darf man die nukleare Dimension im Hintergrund sowohl bei der andauernden Rivalität zwischen Indien und Pakistan als auch bei der neuen zwischen China und Indien. Man kann nur hoffen, daß das nukleare Eskalationspotential ähnlich wie beim Ost-West-Konflikt im Europa des kalten Krieges auch die Bereitschaft zum Einsatz konventioneller Streitkräfte dämpft. Obwohl Indien wahrscheinlich nie eine Wachstumsgeschwindigkeit in der Nähe von zehn Prozent pro Jahr erreichen wird, die China jahrzehntelang geschafft hatte, hat das Land gute Aussichten, im kommenden Jahrzehnt schneller als jede andere große Volkswirtschaft zu wachsen. Gleichzeitig wird die wirtschaftliche und technologische Überlegenheit Indiens über seinen Rivalen Pakistan immer größer werden. Das wird zur Stabilität des Subkontinents beitragen.




Prof. Dr. Erich Weede, Jahrgang 1942, lehrte Soziologie an den Universitäten Köln und Bonn. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft. In der JF äußert er sich regelmäßig zu Fragen der Wirtschafts- und Geopolitik.