© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30/24 / 19. Juli 2024

Christlicher Häretiker statt Vordenker Hitlers
Vor 150 Jahren wurde der österreichische Esoteriker und „Ariosoph“ Jörg Lanz von Liebenfels geboren
Karlheinz Weißmann

Im Jahr 1958 erschien ein Buch aus der Feder Wilfried Daims mit dem Titel „Der Mann, der Hitler die Ideen gab. Jörg Lanz von Liebenfels“. Der Österreicher Daim war kein Historiker, sondern Psychologe, aber seine Behauptung, er habe den Ursprung von Hitlers Weltanschauung gefunden, konnte auch in der Geschichtswissenschaft auf Zustimmung rechnen. Nur Skeptiker wandten früh ein, daß Hitler zwar wie Lanz Antisemit war und dem Begriff der Rasse zentrale Bedeutung eingeräumt habe, sich aber weder in der Begrifflichkeit noch in den Leitideen beider nennenswerte Übereinstimmungen fänden.

Die Hauptursache dafür lag in der Tatsache, daß Lanz zu den Vertretern der „Ariosophie“ gehörte, der Hitler scharf ablehnend gegenüberstand, weil er ihre Vorstellungen für weltfremd und politisch unbrauchbar hielt. Eine Einschätzung, an deren Richtigkeit kaum gezweifelt werden kann. Denn die Ariosophie gehörte zusammen mit Strömungen wie „Theosophie“ und „Anthroposophie“ zu jenem „Occult Revival“ (James Webb), das am Ende des 19. Jahrhunderts einen nicht unerheblichen Einfluß auf die westlichen Gesellschaften ausübte. Im Kern ging es dabei immer um den Versuch, das religiöse Vakuum zu füllen, das durch den Bedeutungsverlust des Christentums entstand, und dabei auf fernöstliche Geistestraditionen – Hinduismus und Buddhismus in erster Linie –, alle möglichen esoterischen Disziplinen, mehr oder weniger ketzerische Traditionen und fallweise auch auf das zurückzugreifen, was man als eigene – germanische, keltische, arische – Überlieferung betrachtete.

Was diese letzte Tendenz betraf, bildete Wien ein Zentrum, und zu ihren wichtigsten Protagonisten gehörten der Schriftsteller Guido List und der um eine Generation jüngere und in manchem von ihm abhängige Lanz, der es wie sein Mentor Guido „von“ List vorzog, unter erschwindeltem Adel als Jörg Lanz von Liebenfels, auch Lancz de Liebenfels oder gar Don Jorge Lanza di Leonforte aufzutreten.

Soweit sich das rekonstruieren läßt, wurde Lanz am 19. Juli 1874 als Adolf Joseph Lanz in Wien geboren. Er stammte aus einer Familie des kleinen katholischen Bürgertums und trat unmittelbar nach der Matura in den Zisterzienserorden ein. Er nahm den Ordensnamen „Georg“ an und führte vorerst ein kaum auffälliges Klosterleben. Ungewöhnlich war lediglich sein reges Interesse an Archäologie, Darwinismus, Vor- und Frühgeschichte sowie der Versuch, Kaufverhandlungen für die Burg Werfenstein vorzubereiten.

Die Situation änderte sich deutlich, als Lanz kein Jahr nach seiner Priesterweihe am 24. April 1899 den Orden verließ. Die Umstände sind nicht mehr zu klären, aber er selbst unternahm später keine Anstrengung, in die Reihen der Zisterzienser zurückzukehren. Vielmehr gründete er Weihnachten 1900 mit seinen Brüdern Herwik und Fridolin den Orden des Neuen Tempels – Ordo Novi Templi (ONT). Gleichzeitig begann Lanz mit einer sehr intensiven publizistischen Tätigkeit, die sich während der kommenden Jahrzehnte in Phasen entwickelte.

Als Ausgangspunkt erscheint hier die Agitation gegen den Einfluß klerikaler Kreise, insbesondere der Jesuiten, die eigentlich zum aufklärerischen und liberalen Repertoire gehörte, aber in Österreich eine enge Verbindung mit der „Los-von-Rom-Bewegung“ der Deutschnationalen eingegangen war. Es folgte die Ausarbeitung einer sogenannten „Theozoologie“, in deren Zentrum die Behauptung stand, daß der Kern allen Übels die Rassenmischung sei. Die müsse – vor allem zum Schutz der „Hellen“, der „Arioheroiker“, vor den „Dunklen“, den „Tschandalen“, zu denen auch die Juden zählten – unterbunden und gleichzeitig eine Reihe von Zuchtkolonien geschaffen werden, um die Fortpflanzung der rassisch wertvollsten Individuen sicherzustellen. In einer dritten Phase hat Lanz sich dann während des Ersten Weltkriegs mit astrologischen Fragen beschäftigt und zuletzt nach dem Zusammenbruch der Mittelmächte wie ein Prophet geriert, der den kommenden Endkampf voraussagte, um sich zuletzt mehr und mehr auf mystische Spekulationen zurückzuziehen.

Einzig Himmler zeigte sich „ariosophischen“ Ideen zugeneigt

Während Lanz im ONT – der kaum mehr als einige Dutzend Mitglieder gehabt haben dürfte – den Träger seiner „Rassenkultreligion“ sah, betrachtete er die Zeitschrift Ostara, deren Herausgeberschaft er 1907 übernahm, als Medium, mit dem sich nach außen wirken ließ. Wie hoch die Auflage war, ist nicht mehr festzustellen, aber sie könnte durchaus erheblich gewesen sein; die Ostara war jedenfalls in Wien am Tabaktrafik zu haben. Weiter fand Lanz offenbar erhebliche finanzielle Unterstützung für die Herausgabe seiner Schriften, etwa des Bibliomysticons, einer Interpretation der Heiligen Schrift aus seiner sehr eigenwilligen Sicht, aber vor allem für die Ausstattung des ONT, der über mehrere Immobilien verfügte, darunter die erwähnte Burg Werfenstein. Von einer engeren Verbindung mit dem Nationalsozialismus kann allerdings keine Rede sein. Lanz’ parallel zum Aufstieg der NSDAP geäußerte Behauptung, er habe dessen geistige Grundlagen geschaffen, wurden von Hitler und seiner Umgebung scharf zurückgewiesen. Nach 1933 unterband man in Deutschland nicht nur die Verbreitung seiner Schriften, auch der ONT fiel im Zuge des 1938 vollzogenen „Anschlusses“ unter Verbot.

Wenn überhaupt von Einflußnahme der Lanzschen Vorstellungen auf das NS-Regime die Rede sein kann, dann nur in einer verdeckten Weise. Zu erwähnen ist in dem Zusammenhang jener obskure Karl Maria Wiligut, wohl ein Mitglied des ONT, der in deutlicher Übertreibung schon als „Rasputin Himmlers“ bezeichnet wurde, weil er vorübergehend Zugang zum Reichsführer SS hatte. Himmler war aber der einzige Spitzenfunktionär des Systems (bringt man Rudolf Heß in Abzug), der sich für ariosophische Ideen ansprechbar zeigte, und auch von diesem Zusammenspiel darf man sich keine übertriebenen Vorstellungen machen.

Lanz war jedenfalls lange vor seinem Tod – er starb am 22. April 1954 in seiner Heimatstadt, versehen mit den Sakramenten der katholischen Kirche – fast vollständig vergessen. Ekkehard Hieronimus, fraglos einer der besten Kenner der Materie, hat hervorgehoben, daß man es in seinem Fall eher mit einer Figur der Religions-, nicht der politischen Geschichte zu tun habe. Seine Weltanschauung gehöre jedenfalls eher in die Kategorie der „christlichen Häresie“, nicht in die einer Partei-Ideologie.

Foto: Jörg Lanz von Liebenfels um 1900: Religiöses Vakuum füllen