© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30/24 / 19. Juli 2024

Aus der Distanz
Tim Pröse legt ein Buch über die Kinder des 20. Juli vor
Paul Leonhard

Neben dem Tisch steht eine Anrichte mit einem Büfett aus Rühreiern, Bacon und Tomaten, von dem uns die Hausangestellte nun etwas auf die Teller gibt. Auf dem großen Tisch liegt eine blütenweiße Decke. Das Licht zweier Kerzenleuchter spiegelt sich im Familiensilber ...“ In diesem Stil berichtet Bestsellerautor Tim Pröse in seinem jüngsten Buch „Wir Kinder des 20. Juli. Die Töchter und Söhne des Widerstands gegen Hitler erzählen ihre Geschichte“ über seine Begegnungen mit Menschen, die, zwischen 1929 und 1944 geboren, wie Millionen ihrer Altersgenossen ihre Väter kaum gekannt haben. Aber die Interviewten tragen das Stigma, daß sie als Heranwachsende weit über den Krieg hinaus ausgegrenzt wurden, weil ihre Väter erst als Volksverräter galten und erst viel später im Gedächtnis der Deutschen zu Helden aufstiegen.

Alle entdeckten Akten und Protokolle sind längst gelesen und ausgewertet, alle Tagebücher, Briefwechsel und Erinnerungen veröffentlicht und interpretiert – aber Pröse will wissen, was es mit Kindern macht, über die ein Leben lang der Schatten ihrer widerständigen Väter, bei einigen auch Mütter, fällt. Er besucht sie privat zu Hause oder an historischen Stätten wie dem Hinrichtungsraum in Plötzensee. Er befragt sie, läßt ihr Auftreten, ihr Umfeld auf sich wirken. Da ist der älteste Sohn des Kopfes der Hitler-Attentäter: Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, Jahrgang 1934. Als gerade Zehnjähriger kommt er im Sommer 1945 mit seinen drei jüngeren Geschwistern in Sippenhaft. Ihn treibt noch heute die Frage um, warum sein Vater „die zweite Bombe nicht mit in die Tasche gelegt hat“.

Es sind kurze, aber aussagekräftige Originalzitate, die Pröse geschickt zu einer Erzählung verwebt. So wenn ihm die Frau von Philipp Freiherr von Boeselager (1917–2008) anvertraute, daß ihr Mann ab und zu noch immer geträumt habe, die Gestapo stehe an seinem Bett. Und auch, daß in einem Tresor blank geputzt jene Pistole lag, mit der er Hitler erschießen wollte.

Als Ich-Erzähler verbindet Pröse seine Begegnungen mit Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, mit Klaus von Dohnanyi, Carl Goerdeler, Helmtrud von Hagen, Anton Wirmer und anderen, mit beinahe schwülstigen Beschreibungen von Landschaften, Hauseinrichtungen, Kleidung und der Rolle des Adels zu einem Gesamtbild. Er befragt seine Gesprächspartner nach ihren Botschaften in einem Heute, „in dem sich die Demokratie in Deutschland erneut wehren muß gegen Kriege, Diktatoren und radikale Kräfte“. Daß Pröse in seinem Buch den politischen Zeitgeist bedient, ist nicht das größte Ärgernis an diesem Buch, sondern das grenzwertige Pathos, mit der dem Autor die vielen Leerstellen der 368 Seiten füllt.


Tim Pröse: Wir Kinder des 20. Juli. Die Töchter und Söhne des Widerstands gegen Hitler erzählen ihre Geschichte. Heyne Verlag, München 2024, gebunden, 365 Seiten, 22 Euro