Jetzt also doch: Nachdem sich der amtierende US-Präsident Joseph Biden zunächst drei Wochen nach dem katastrophalen Fernsehduell am Amt des Kandidaten auf die US-Präsidentschaft festklammern konnte, nahm zunächst schleppend, dann anschwellend, der interne Druck aus der Partei der Demokraten derart zu, daß er sich zum Rücktritt als Kandidat, nicht aber als Staatschef gezwungen sah. Viele der Parteigranden sprachen scheinbar über Nacht – aber wohl doch schon mit längerem Anlauf vorbereitet – seiner Vize Kamala Harris ihr Vertrauen aus.
Die 59jährige Kalifornierin ist vorerst nominiert, doch bis zum Parteitag in Chicago ist noch Zeit: Undenkbar ist jetzt kaum etwas, auch ein erneutes Umsteuern nicht. Traditionell bedient man sich in der US-Spitzenpolitik gern unter kompetenten Gouverneuren mittleren Alters: daher gelten Gavin Newsom aus Kalifornien und Gretchen Whitmer aus Michigan als Favoriten. Denkbar ist aber auch eine Ablösung von Harris; als Vizepräsidentin war sie blaß und wirkte inkompetent, als Senatorin positionierte sie sich hingegen sehr wohl, und zwar klar links in Fragen wie Abtreibung, Einwanderung und Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Eine ideologische Neuausrichtung ist also vom ersten schwarzen weiblichen Vizepräsidenten Harris nicht zu erwarten: eher positionieren sich die Demokraten im Falle eines Wahlsieges noch weiter links. In der Außenpolitik hieße das harte Konfrontation mit Rußland und eine unstete, aggressive Haltung im Nahen wie im Fernen Osten. Auch gegenüber Deutschland und Europa würde sich wenig ändern: die Region ist im Grunde genommen als wirtschaftliches Protektorat und militärische Aufmarschzone gegen Rußland vorgesehen.
Unproblematisch ist die vorläufige Ernennung Harris’ keineswegs. Angesichts schlechter Umfragewerte ist völlig schleierhaft, wie die Demokraten vorhaben, mit der selben Personalie und denselben Ideen Wechselwähler anzusprechen.
Die bereits anfahrende Medienkampagne blendet Wähler bewegende Kernthemen wie Inflation und Masseneinwanderung aus, da Harris hier wenig zu sagen hat. Sie war mit der Sicherung der Südgrenze betraut und hat in dieser Sache in der ihr eigenen Mischung aus Inkompetenz, Arroganz und ideologischer Verbohrtheit für die weitere Öffnung gesorgt.
So hat man sich durch Apathie und Ideologie in eine Problemsituation hineinmanövriert, die fast noch schlimmer ist als die europäische. Denn längst sind nicht mehr alle Asylbewerber Mexikaner oder Lateinamerikaner. Es besteht ein Ansturm aus der ganzen Welt. Noch mehr ungelenkte Masseneinwanderung, die Löhne nach unten und Immobilienpreise nach oben drückt, dazu ein sündhaft teurer Krieg in der Ukraine, Preisschub und woke Innenpolitik: außerhalb des gefestigt linken Lagers wird Harris wohl kaum punkten.
Mit dem Gemengekomplex der Frage nach der Abstammung („race“) haben sich die Demokraten auf glattes Eis begeben. Die Minister in Bidens Kabinett bilden die demographische Realität der USA nicht ab, im Gegenteil sind heterosexuelle Amerikaner nordwesteuropäischer Abstammung – immerhin die Bevölkerungsmehrheit – sogar stark unterrepräsentiert. Identitätspolitik und de facto rassistische Personalpolitik – wenn auch mit verdrehten Vorzeichen – sind keine graue Theorie für die amerikanischen Linken. Wer geglaubt hat, daß Harris zwar klar aufgrund ihrer Hautfarbe und Abstammung als Vize nominiert wurde, gleichwohl aber auch eine gewisse Kompetenz mitbringen sollte, aufgrund ihrer Berufserfahrung als Generalstaatsanwältin von Kalifornien, wurde schnell eines Besseren belehrt.
Auch hier stellt sich die Frage, ob nicht auch diese Nominierung letztlich eben nicht ihrer Kompetenz, sondern anderen Faktoren geschuldet war – zum Beispiel ihrer langjährigen Affäre mit dem ehemaligen Bürgermeister von San Francisko, in dessen Amtszeit ihre Ernennung fiel.
2020 standen die Dinge bei den Vorwahlen schlecht für Biden, und zu allem Überfluß warf ihm Mitbewerberin Harris auch noch indirekt Rassismus vor, weil dieser in den 1970er Jahren die brachiale Politik der Desegregation von Schulen durch die gezielte Einschulung von schwarzen Schülern an vormalig überwiegend weißen Schulen kritisiert hatte. Daß diese Politik seinerzeit wie auch heutzutage von schwarzen wie weißen Amerikanern kritisch beäugt wird, weil sie die Beziehungen der Abstammungsgemeinschaften insgesamt eher verschlechterten, war Harris zwar entgangen, spielte aber links der Mitte auch keine Rolle.
Letztlich waren es dann die schwarzen Wähler im Bundesstaat South Carolina, die bei den Vorwahlen Bidens Kandidatur retteten, und als quid pro quo erfolgte Harris Nominierung, obgleich letztere strenggenommen ja keine echte Afroamerikanerin, sondern Tochter eines jamaikanischen Professoren und einer indischen Biowissenschaftlerin ist.
Die Republikaner haben mit Donald Trump und J. D. Vance ein Duo ins Rennen geschickt, das für eine neue amerikanische Rechte steht. Links wäre zwar auch eine Neuausrichtung denkbar, also zum Beispiel mit dem Duo Newsom-Whitmer einschließlich Kurskorrektur Richtung Mitte, aber unwahrscheinlich. Trump-Vance hingegen stehen für die Neue Rechte, die links der Mitte für Hysterie sorgt und auch unter den Republikaner, die der Partei George W. Bushs hinterhertrauern, nicht für Begeisterung sorgt.
Die Neue Rechte ist die Partei der Niedrigverdiener und der Mittelschicht, distanziert sich vom Neoliberalismus und Wohlfahrtsstaatrückbau, verfolgt wirtschaftlichen Protektionismus, konservative Einwanderungspolitik und eine zielgerichtetere Außenpolitik, die die sinnlosen militärischen Verwicklungen der Linken „humanitärer“ Art (also etwa Clintons Krieg im Ex-Jugoslawien) ebenso vermeidet wie die neo-imperialen der alten Rechten (also etwa den Irakkrieg der frühen Nullerjahre).
Das Ganze ist dann noch garniert mit Rückbau des Washingtoner Beamtenapparates und dem Abräumen der linken Kulturpolitik der 2010er Jahre, ob die Fetischisierung von „Vielfalt“, die zur Karikatur verkommene Zelebrierung sexueller Spielarten oder eben auch die vormals liberale Abtreibungsregulierung in den meisten Bundesstaaten. Fairerweise gilt: auch hiermit kann man links der Mitte kaum ankommen, es sei denn bei den enttäuschten Anti-Establishment-Linken, die sich 2016 hinter Bernard Sanders versammelten. Zum Wahlsieg könnte es aber dennoch reichen, insbesondere wenn die Demokraten tatsächlich nicht alle Pferde austauschen, sondern auf ein plumpes „Weiter so“ setzen.