Das „neue“ Verständnis der Grundrechte beim Innenministerium wie beim Verfassungsschutz sieht die Grundrechte als zivilreligiösen Tugendkatalog an, anhand dessen der Staat die Verfassungsfreundlichkeit seiner Bürger beurteilt und beaufsichtigt. „Menschenwürde“ bedeutet dann nicht mehr, daß der Staat gegenüber den Bürgern keine Umerziehungsmaßnahmen ins Werk zu setzen hat, sondern vielmehr, daß der Bürger auch millionenfache Einwanderung in die Sozialsysteme nicht kritisieren darf, weil Einreiserecht wie Versorgungsanspruch eben Ausdruck der Menschenwürde der Einwanderer seien. „Gleichheit“ bedeutet nicht mehr, daß der Staat Beamte nur nach Befähigung und Eignung und ohne Rücksicht auf Geschlecht oder Migrationshintergrund einzustellen hat, sondern daß der Bürger aktivistische Gleichstellungsmaßnahmen oder gar Quotenregelungen nicht in Frage zu stellen hat; denn sonst würde er sich an der Verfassung vergehen und gilt schnell als „Verfassungsfeind“.
Neuestes Beispiel für diese maßnahmen- und erziehungsstaatliche Begründungstechnik, die mit den rechtsstaatlichen Vorgaben des Grundgesetzes wenig bis nichts zu tun hat, ist nun der seitens des Bundesinnenministeriums in Gestalt von 40 vermummten Polizisten morgens um sechs Uhr an der Haustür dem Journalisten Jürgen Elsässer überreichte Verbotsbescheid, der dessen „Compact-Magazin GmbH“ betraf.
Herkömmlicherweise müßte dem Erlaß eines solchen Bescheides eine Anhörung des Betroffenen vorausgehen, und müßte die Erhebung einer Klage gegen die Maßnahme deren Vollziehung bis zur Rechtskraft aussetzen, dies allein aus Gründen der Rechtssicherheit.
Hier allerdings hat das Innenministerium nicht nur von einer vorherigen Anhörung abgesehen, sondern auch die sofortige Vollziehung angeordnet, damit nicht Elsässer am Ende Schreibtische, Drehstühle und Computer irgendwo versteckt, um privat heimlich weiterschreiben zu können. Die vom Erscheinen des Magazins Compact ausgehenden Gefahren für die freiheitlich-demokratische Grundordnung seien so groß, daß nicht nur keine mildere Maßnahme als das endgültige Totalverbot in Frage komme, sondern dieses auch sofort ausgeführt werden müsse.
Dies ist angesichts des Umstandes, daß Compact während seines langjährigen Erscheinens offenbar noch nie einer Straftat (wie etwa „Volksverhetzung“) überführt worden ist, sondern das Verbot ausschließlich mit Äußerungen „unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“ begründet wird, die im Verfassungsstaat des Grundgesetzes eigentlich der Freiheit beziehungsweise der Privatautonomie des Bürgers und Journalisten unterfallen und die von Anfang an keine staatlichen Eingriffsmaßnahmen rechtfertigen würden, eine erstaunliche Begründung.
In der Sache wird das Verbot wesentlich damit begründet, das Magazin äußere sich laufend „offen rassistisch, antisemitisch, fremden-, migranten-, muslimen- und minderheitenfeindlich“ und enthalte „Polemik, Tabubrüche, Grenzüberschreitungen sowie tendenziös-verzerrende und selektivmanipulative Darstellungen“.
„Compact“ befürwortet die Einführung von „mehr Demokratie“
Selbst wenn das alles stimmte – mit „Verfassungsfeindlichkeit“ im Sinne eines grundgesetzlich vorgesehenen Vereinsverbots hätte dies von vornherein nichts zu tun. Denn dazu wäre es erforderlich, daß ein Verein sich aktiv und kämpferisch gegen den Wesenskern der freiheitlich-demokratischen Grundordnung wendet, also gegen die Menschenwürde als solche, die Volkssouveränität als solche oder gegen Rechtsstaat und unabhängige Gerichte per se positioniert.
Gerade, was den Punkt Volkssouveränität und Demokratie angeht, so ist aus der 79seitigen Verbotsbegründung selber herauszulesen, daß Compact gerade nicht die Wiedereinführung einer Königsherrschaft propagiert, sondern vielmehr „mehr Demokratie“ in Gestalt von Volksabstimmungen verlangt und die Abgehobenheit der Eliten vom Volkswillen etwa im Hinblick auf die Migrationsproblematik geißelt.
Gegen die Menschenwürde sei Compact, weil man dort offenbar ethnisch Fremde „nach Möglichkeit“ nicht ins Staatsvolk aufnehmen wolle. Hier sind natürlich die Worte „nach Möglichkeit“ entscheidend, die das Bundesinnenministerium nicht weiter erläutert. Sofern damit – was naheliegt – die rechtlichen Möglichkeiten gemeint sein sollten, was eben nach Recht und Gesetz zur Erreichung eines politischen Ziels möglich ist, bleibt unerfindlich, was daran „verfassungsfeindlich“ sein soll.
Das Magazin erhebe weiter die Forderung nach dem „Erhalt des deutschen Volkes in seinem ethnischen Bestand“, deren als selbstverständlich vorausgesetzte Verfassungsfeindlichkeit der Bescheid nicht weiter begründet. Gleich mehrfach kommt der Bescheid auf den Umstand zu sprechen, daß ein Wäsche-Werbekatalog, in dem auf 34 Seiten nur farbige Modelle abgebildet gewesen sein sollen, im Magazin auf höhnische Ablehnung getroffen sei. Es ist aber schlechterdings keine verfassungsrechtliche Pflicht privater Bürger zu erkennen, derartige Werbekataloge zu loben, um das Totalverbot ihres Mediums zu vermeiden.
Auf die rechtlichen Probleme des Totalverbots eines Mediums ohne Gerichtsentscheidung und ohne auch nur den Verdacht einer Straftat geht der Bescheid nicht weiter ein, weswegen sich sagen läßt, daß er einer juristischen Begründung im engeren Sinne entbehrt.
Es ist zwar richtig, daß das Vereinsgesetz, auf das die Innenministerin sich beruft, auch „Wirtschaftsvereinigungen“ wie die GmbH grundsätzlich mit einschließt. Dennoch erlaubt es kein Totalverbot von Pressemedien, dies schon deswegen, weil der Bund, der das Vereinsgesetz erlassen hat, gar nicht die Regelungskompetenz für das Presserecht hat. Dieses ist vielmehr in den Presse- und Mediengesetzen der Länder angesiedelt, die ein Totalverbot eines Mediums von vornherein nicht vorsehen. Das bestätigt das Vereinsgesetz, indem es die Pressefreiheit nicht unter den von ihm eingeschränkten Grundrechten auflistet.
Auch hätte das Totalverbot eines Pressemediums bereits nach der „Wesentlichkeitstheorie“ des Bundesverfassungsgerichts in einem einschlägigen parlamentarischen Spezialgesetz mit Tatbestandsvoraussetzungen, Verfahren und Zuständigkeiten vom Gesetzgeber selbst geregelt worden sein müssen, statt vom Innenminister so freihändig wie überraschend als Reflex des Vereinsrechts postuliert zu werden – falls dergleichen unter dem Grundgesetz überhaupt möglich sein sollte.
Am erschreckendsten ist jedoch die Auseinandersetzung des Bescheids mit den Grundrechten der Betroffenen. Die Presse- und Meinungsfreiheit stehe einem Verbot insofern nicht entgegen, als hier „Medienerzeugnisse“ ja nur „mißbraucht“ worden seien, um (vermeintlich) verfassungsfeindliche Auffassungen zu verbreiten. Belegt wird dies mit einem Zitat Elsässers: „Und auch noch ein wichtiger Unterschied zu anderen Medien: Wir wollen dieses Regime stürzen. Wir machen keine Zeitung, indem wir uns hinter dem warmen Ofen oder den Computer verziehen und irgendwelche Texte wie eine Laubsägearbeit auf den Markt bringen. Sondern das Ziel ist der Sturz des Regimes. Und nur wenn man das Ziel vor Augen hat, kann man auch entsprechende Texte schreiben.“
DDR-Rechtsauffassung werde
in den Medien normalisiert
Und auch auf die Menschenrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention könnten sich Elsässer und Compact nicht berufen, da ihre „Ideologie“ mit den „Grundwerten der Konvention unvereinbar“ sei. Hier führt das Bundesinnenministerium eine geradezu hanebüchene Theorie der Grundrechtsverwirkung ein, die die von seiten eines Presseorgans kritisierte Bundesregierung selber (und in eigener Sache) feststellen kann, wenn sie die mediale Kritik als übertrieben, unsachlich und empörend empfindet.
Nicht nur also, daß ausgerechnet die Grundrechte den Bürger zur Loyalität gegenüber den politischen Ideen der jeweiligen Regierung verpflichten sollen; die Presse- und Meinungsfreiheit berechtigt nach Ansicht der Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) offenbar ausschließlich zur Äußerung von im weiteren Sinne regierungsloyalen Ansichten, ansonsten werde sie „mißbraucht“. Das war im wesentlichen bereits die Rechtsauffassung der Kommunisten im Ostblock und in der DDR, die man 1989 bereits besiegt glaubte – bevor sie gerade im Nachgang der Wiedervereinigung und im Zeichen der auch wegen ihr aufkommenden antinationalen Ideologie in Westdeutschland einen neuen Marsch durch die Institutionen, das heißt vor allem in die Medien, antraten.
Wir erleben derzeit eine Revolution. Daß in einer heutigen Revolution, anders als in den Revolutionen in längst vergangenen Epochen wie der Französischen (1789) oder der Russischen Revolution (1917) nicht mehr Bahnhöfe und Postämter besetzt werden, sondern Begriffe, war etwa Bundesjustizminister Heiner Geißler (CDU) schon in den 1970er Jahren aufgefallen. Er dachte dabei allerdings kaum an den rechtlichen oder verfassungsrechtlichen Diskurs, sondern an genuin politische, zumal mit dem Umverteilungsgedanken verbundene und dabei hochabstrakte Begriffe wie „soziale Gerechtigkeit“ oder „Freiheit“.
Daß der Kampf nicht auf der Barrikade, sondern im medialen Raum und um Begriffe sich erstens auch auf die – politisch in Wahrheit viel relevanteren – konkreten Begriffe des Verfassungsrechts bezieht, und daß dies zweitens impliziert, daß der juristische Fachstab, eigentlich als solcher im Innern bereits uneinig genug, kaum seine „Oberhoheit“ über die Auslegung der verfassungsrechtlichen Begriffe würde behaupten können, sondern die Verfassungsauslegung maßgeblich auch auf Parteien, „pressure groups“ und Medien übergehen würde, hat bereits der Rechtsprofessor Peter Häberle in seinem aus heutiger Sicht visionären Aufsatz „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (1975) vorhergesehen.
In Anlehnung an Luhmanns Diktum „Was wir über die Welt wissen, wissen wir aus den Massenmedien“ gilt heute eben auch: Was wir über den Inhalt der Verfassung und ihre richtige Auslegung wissen, wissen wir ebenfalls nur aus den Massenmedien. Vom juristischen Fachstab hingegen nur und insoweit, wie ARD und ZDF – die die Auslegung des Grundgesetzes vorwiegend Politikern ohne abgeschlossene Ausbildung, Klimaklebern oder NGO-Vertretern wie etwa den „Seenotrettern“ überlassen – es für opportun halten, ihn zu Wort kommen zu lassen. Woraus wiederum ein gewisser Druck auf dessen Vertreter herrührt, sich möglichst so über verfassungsrechtliche Fragen zu äußern, daß linke Haltungsjournalisten es zu würdigen wissen.
Die Revolution im
Verständnis der Grundrechte
Sobald der im Verlauf des langen 19. Jahrhunderts von bildungsbürgerlichen Schichten geschaffene Verfassungsstaat, in dem mit formaljuristischen Mitteln ein Spiel von „checks and balances“ ins Werk gesetzt wird, dem politisch-medialen Komplex gewichen ist, unter dessen Herrschaft die Welt nicht mehr verändert werden soll, sondern ihr eine mediale Erzählung entgegengesetzt wird (deren Glaubhaftigkeit entgegen allen äußeren Tatsachen dann alsbald ein Oppositionsverbot erfordert), kommt es nicht mehr darauf an, etwa durch äußeres Handeln, notfalls gewaltsam, die Verabschiedung eines neuen Verfassungstextes zu erzwingen, was etwa das große Thema der Amerikanischen Revolution (1763) gewesen war. Sondern das scheinbar unverändert geltende Recht wird laufend revolutionär uminterpretiert, was gestern noch als überhitzte Phantasie halbverrückter Staatsfeinde galt („Offene Grenzen“, „Bleiberecht für alle“) darf einige Jahre später und nach viel medialem Getrommel als die politische Moral der „Mitte“ gelten. Faktisch („Realverfassung“ nannte dies August Bebel) wird die Verfassung heute nicht mehr durch Bundestag und Bundesrat und mit Zweidrittelmehrheit geändert, sondern durch ARD, ZDF und NGOs im Wege ständiger Wiederholung bestimmter moralisierender Phrasen.
Die revolutionäre Umdeutung des Verfassungsrechts und die sprunghaft eingeleiteten Veränderungen der Verfassungsauslegung haben etliche Aspekte. Wegmarken waren etwa die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur europäischen Schuldenvergemeinschaftung entgegen der klaren Vertragslage (übergeordnete politische Ziele lassen rechtliche Regeln leerlaufen) oder des Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu „Corona“ wie zum Klimaschutz (alle Grundrechte stehen unter dem Vorbehalt der Lagebeurteilung durch die Regierung und den von ihr eingesetzten „Experten“-Panels). Hier interessiert vor allem die völlige Umdeutung der Funktion und Bedeutung der Grundrechte, die in den letzten zwei Jahrzehnten durch die laufende Publikationstätigkeit teils staatlich, teils von undurchsichtigen überseeischen Milliardärsstiftungen finanzierten NGOs bewirkt wurde, aber auch durch deren Rezeption in den Verfassungsschutzberichten des Bundes wie der Länder.
Grundrechte sind im freiheitlichen Verfassungsstaat Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat, die dem Schutz der Privatautonomie und der persönlichen Freiheit dienen. Ihr Gebrauch setzt keine besondere Verfassungstreue, Staats- oder gar Regierungsloyalität voraus. Da die Grundrechte nur den Staat binden, nicht aber den Bürger, kann dieser gar nicht „verfassungswidrig“ handeln, allenfalls verfassungsfeindlich. Zwar enthalten die Grundrechte neben der Abwehr- auch eine Schutzfunktion, die den Staat verpflichtet, sich nicht nur selber Grundrechtseingriffen zu enthalten, sondern als Inhaber des Gewaltmonopols den Bürger auch aktiv vor der Verletzung grundrechtlich geschützter Rechtswerte durch Private zu bewahren. Das führt etwa dazu, daß die ordentlichen Gerichte bei der Anwendung des Zivilrechts die Meinungsfreiheit nicht nur vor staatlichen, sondern auch vor privatrechtsförmigen Einschränkungen schützen müssen, nicht aber dazu, daß der Bürger selber durch Grundrechte oder vermeintlich aus ihnen abzuleitende „Werte“ in die Pflicht genommen würde.
Wir leben in merkwürdigen Zeiten. Müßten nicht eigentlich früher oder später internationale Sanktionen gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet werden? Zumindest ein Vertragsverletzungsverfahren auf EU-Ebene wegen Verletzung grundlegender rechtsstaatlicher Maßstäbe und Verfahren erscheint nun nicht mehr fernliegend.
Dr. jur. habil. Ulrich Vosgerau, Jahrgang 1974, Privatdozent, lehrte Rechtswissenschaften und Rechtsphilosophie an verschiedenen Universitäten. Als Verfahrensbevollmächtigter hat er die AfD bereits mehrfach vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten.