© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 31-32/24 / 26. Juli 2024

Die Milliarden, die uns allen fehlen
Steuerpolitik: Verhinderte Aufklärung im Cum-Ex-Skandal / Die ehemalige Staatsanwältin Anne Brorhilker gibt nicht auf
Martin Krüger

Die Schlagzeilen über die krummen Aktiengeschäfte reißen nicht ab. Zig Milliarden Euro wurden den deutschen Steuerzahlern durch komplexe Finanztransaktionen entzogen. Doch trotz staatlicher Finanznot und steigender Steuern und Abgaben scheint der Aufklärungswille nicht wirklich vorhanden. Es ist höchste Zeit, daß diese fingierten Steuererstattungen zurückgeholt werden. Doch wo sind die erschlichenen Milliardensummen? Und wie kommt man überhaupt noch an sie heran?

Cum-Ex-Geschäfte beziehen sich auf eine Form der Steuerhinterziehung, bei der Investoren Aktien mit (cum) und ohne (ex) Dividendenanspruch rund um den Dividendenstichtag hin und her verkaufen. Ziel ist es, sich Kapitalertragsteuern mehrfach erstatten zu lassen, die aber nur einmal gezahlt wurden. Durch ein Netzwerk von Banken, Fonds und Investoren konnten so Milliardenbeträge an Steuern zurückgefordert werden. Investoren wurden dabei oft Renditen von zwölf Prozent binnen drei Monaten zugesichert. Kursgewinne waren irrelevant, Kursrisiken gar ausgeschaltet. Der Profit bestand aus Steuererstattungen. Oft wurden Aktien zweimal verwendet, manchmal noch häufiger. Die Händler nannten das Recycling oder Looping.

Cum-Cum-Deals zielen darauf ab, Ausländern die Rückerstattung der Kapitalertragsteuer zu ermöglichen. Cum-Ex-Geschäfte wurden durch interpretierbare rot-grüne Gesetzesänderungen realisierbar, und sie richteten zwischen 2001 und 2011 massive Schäden an. Cum-Cum-Geschäfte liefen sogar bis 2016 weiter, da die Merkel-Regierungen nur zögerlich Stoppschilder setzten. Obwohl die Cum-Cum-Geschäfte einen noch größeren Schaden verursacht haben. Bei Cum-Ex-Geschäften beläuft sich der Steuerraub allein in Deutschland auf rund zehn Milliarden Euro, der von Cum-Cum-Geschäften auf etwa 28 Milliarden Euro.

Die 2018 von dem grünen Bundestagsabgeordneten Gerhard Schick gegründete Bürgerbewegung Finanzwende setzt sich dafür ein, der Branche „Fesseln“ anzulegen – mit dem Argument: Mit den so entgangenen Steuereinnahmen ließen sich Schulen, Krankenhäuser oder Infrastrukturprojekte finanzieren – oder an anderer Stelle die Steuern senken, wäre hinzuzufügen. Doch medial und in der Lobbypraxis spielte die Finanzwende nicht mal in der B-Liga. Die viel besser finanzierten Klimapaniker von Deutsche Umwelthilfe (DUH), Greenpeace & Co dominierten die NGO-Szene.

Ist Schutz der Banken wichtiger als der Schutz der Steuerzahler?

Doch mit Anne Brorhilker, Ex-Oberstaatsanwältin aus Köln, haben die Finanzmarkt-Kritiker nun zumindest mehr Sachverstand aus der juristischen Praxis auf ihrer Seite. Ihre unermüdliche Arbeit hat bereits einige der Drahtzieher vor Gericht gebracht. „Seit 2015 sei es unzweifelhaft klar, daß die Geschäfte steuerrechtlich nicht in Ordnung sind“, erklärt die 50jährige Topjuristin bei ihrer jüngsten Pressekonferenz. „Man muß sich das vorstellen wie bei einem Flipperautomat. Jedesmal, wenn die Kugel einen Auslöser berührt, macht es ‘pling!’. So war es auch im Aktienhandel. Sobald die Aktie beim Käufer ankommt, schüttet das Finanzamt aus.“

Doch trotz der anschaulichen Darstellung scheint das Erreichen einer größeren Öffentlichkeit weiterhin genauso schwierig wie die Aufklärung und Rückforderung der unterschlagenen Gelder. Dabei hatte Brorhilker genau deshalb im April um ihre Entlassung aus dem wohldotierten Staatsdienst gebeten. Als Geschäftsführerin der Finanzwende hat sie nun sogar weniger Macht. Denn der „Schutz der Banken wiegt für die Finanzbehörden offenbar schwerer als der Schutz von Steuergeldern der Allgemeinheit“, meint Brorhilker. Die Finanzministerien müßten endlich zeigen, auf welcher Seite sie stehen.

Vielleicht war es auch nur Naivität und das Hören auf die Einflüsterungen von Banklobbyisten. US-Banken haben solche Geschäfte bereits 2008 auf ihrem Heimatmarkt eingestellt – die Cum-Ex-Experten zogen weiter nach Europa, vor allem nach Deutschland. Der Finanzsektor sei eine „große, sehr gut vernetzte Branche, die ein großes Interesse daran hat, effektive Kontrollen und Strafverfolgung zu verhindern, und die damit durchkommt“, sagt Brorhilker mit Blick auf ihre bisherige Sisyphusarbeit. Es sei häufig alles getan worden, um die Cum-Ex-Untersuchungsarbeit zu erschweren und in die Länge zu ziehen: Dokumente seien ins Ausland geschafft worden und könnten angeblich nicht mehr nach Deutschland zurückgeholt werden.

Die Rückholung der durch Cum-Ex/Cum-Cum-Milliarden scheint nach jahrelanger Untätigkeit fast unmöglich. Neben der strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen müssen auch die finanziellen Ströme nachverfolgt werden. Internationale Zusammenarbeit ist hierbei unerläßlich, da viele der Transaktionen über Grenzen hinweg erfolgten. Der wichtigste Schritt ist eine Reform des Steuersystems, um Schlupflöcher zu schließen und so sicherzustellen, daß Steuern dort gezahlt werden, wo die Gewinne erwirtschaftet werden. Nur so kann verhindert werden, daß ähnliche Skandale erneut auftreten.


Bürgerbewegung Finanzwende: www.finanzwende.de/themen/cumex


Foto: Ex-Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker wurde Geschäftsführerin der Bürgerbewegung Finanzwende: „Man muß sich das vorstellen wie bei einem Flipperautomat. Jedesmal, wenn die Kugel einen Auslöser berührt, macht es ‘pling!’. So war es auch im Aktienhandel. Sobald die Aktie beim Käufer ankommt, schüttet das Finanzamt aus.“