© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 31-32/24 / 26. Juli 2024

Die Hölle im Bühnenformat
Zeitgeschichte auf Leinwand: Sechzig Jahre nach dem Frankfurter Auschwitz-Prozeß kommt dessen Adaption fürs Theater durch den Dramatiker Peter Weiss als vierstündiger Filmmarathon ins Kino. Ist das für Zuschauer zu ertragen?
Dietmar Mehrens

Die „abgründigste Unmenschlichkeit“ auf die Bühne zu bringen und auf diese Weise eine Katharsis im Volk der Urheber dieses Grauens zu bewirken war das Ziel, das der Dramatiker Peter Weiss (1916–1982) mit seinem Schauspiel „Die Ermittlung“ verfolgte. Ihm lag der von Dezember 1963 bis August 1965 gegen 18 Angehörige des Aufsichts-, Sanitäts- und Wachmannschaftspersonals des KZ Auschwitz geführte Prozeß zugrunde, der zwanzig Jahre nach der Befreiung des Tötungslagers auf eine Gesellschaft stieß, die lieber nach vorn als zurück in die Vergangenheit blicken wollte. Die Uraufführung des „Oratoriums in 11 Gesängen“ erfolgte am 19. Oktober 1965 parallel in mehreren deutschen Großstädten sowohl der Bundesrepublik als auch der DDR sowie in London und schrieb damit ein Stück europäischer Theatergeschichte.

Das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, etwa drei Kilometer von Stammlager zwischen Gleiwitz und Krakau entfernt, war von 1941 bis zum Ende des Krieges in Betrieb. Außer den dorthin deportierten europäischen Juden wurden hier unter Mißachtung des Völkerrechts in großer Zahl auch sowjetische Kriegsgefangene ermordet. Leiter war Obersturmbannführer Rudolf Höß.

Während der Gerichtsverhandlung und eines Vor-Ort-Termins in Auschwitz angefertigte Aufzeichnungen, Prozeßberichte aus der Tagespresse (namentlich Bernd Naumanns Beiträge für die FAZ) sowie „Kommandant in Auschwitz“, die in polnischer Gefangenschaft niedergeschriebenen Erinnerungen des vom Obersten Volksgericht Polens abgeurteilten und 1947 hingerichteten Rudolf Höß (in deutscher Sprache 1958 herausgegeben von Martin Broszat), dienten als Grundlage für die dramatische Verdichtung, die Weiss bei der Abfassung des Stücks vornahm. Täter, Mitläufer und Opfer des berüchtigten Konzentrationslagers kommen zu Wort. Die Angeklagten sind dieselben wie die im Frankfurter Prozeß vor Gericht gestellten und tragen ihre richtigen Namen. Als „Chor“ des „Oratoriums“ fungiert ein Konzentrat der mehr als 300 Zeugen, die in Frankfurt befragt wurden. Die Kunst war hier vor allem die Kunst der dramaturgisch wirkungsvollen Anordnung der vielen Zeugnisse. Denn natürlich folgt eine Gerichtsverhandlung keiner Theater-Dramaturgie.

Rückgriff auf die antike Kunstform der Klagelieder

Formal griff der Autor zurück auf die antike Kunstform der Klagelieder, die auch ein Buch der Bibel bilden. Tatsächlich gesungen wird aber nicht. Die 33 Abschnitte, in die er sein Dokumentarspiel gliederte, waren als Anspielung gedacht auf die Zahl der Gesänge über das Inferno in Dantes „Göttlicher Komödie“. Denn mit einer Hölle bekommt man es bei den erschütternden Aussagen der Angeklagten und Zeugen, die Peter Weiss auf sein Publikum einprasseln läßt, in der Tat zu tun, jener Hölle, die laut Jean-Paul Sartres „Huis clos“ die anderen sind. „Die Ermittlung“ zeigt, wie wenig nötig ist, damit Menschen ihren Mitmenschen zum Inferno werden.

Nachdem sich in diesem Jahr bereits Jonathan Glazers Experimentalfilm „The Zone of Interest“ (JF 9/24) des Themas Auschwitz angenommen hat, wird es nun bei RP Kahls Filmadaption des Bühnenstücks von Peter Weiss künstlerisch noch radikaler: In bester „Dogville“-Manier wird das Medium Film auf Bühnenformat geschrumpft, und mit vier Stunden Spieldauer nähert sich der Regisseur nicht nur thematisch, sondern auch hinsichtlich der Filmlänge Claude Lanzmanns „Shoah“-Dokumentation von 1985 (die sogar noch fünf Stunden länger war) und erschafft damit ein eindringliches Stück Erinnerungskultur. Nach intensiven vierwöchigen Proben erweckten sechzig Schauspieler den Text von Peter Weiss für die Kinoleinwand zum Leben. An insgesamt fünf Drehtagen wurden die einzelnen Gesänge im Studio Berlin-Adlershof mit einem ausgefeilten visuellen Konzept in jeweils nur einer Einstellung gedreht – eingefangen von insgesamt acht Arri-Kameras.

Der Richter (Rainer Bock), der Vertreter der Anklage (Clemens Schick) und Bernhard Schütz als Verteidiger befragen während der Verhandlung 28 Zeugen dazu, was sich hinter den Stacheldrahtzäunen des Vernichtungslagers zugetragen hat. Weitere elf Geladene stammen aus dem Kreis der ehemaligen Lagerverwaltung. Gespielt werden die Zeugen von so prominenten Darstellern wie Karl Markovics, Peter Lohmeyer, André Hennicke, Marco Hofschneider, Nicolette Krebitz, Christiane Paul und Sabine Timoteo. Richter und Staatsanwalt fordern die 18 Angeklagten immer wieder dazu auf, zu den von den Zeugen geschilderten Tathergängen Stellung zu beziehen. Mit Formulierungen wie „Da war ich gar nicht zuständig“ oder „Es war ein Befehl, ich hatte als Soldat zu handeln“ ziehen sie sich zumeist auf ihre Dienstpflicht und Weisungsgebundenheit zurück.

„Herr Vorsitzender, uns wurde das Denken abgenommen“

Die elf Gesänge, die jeweils ein Luftbild des Konzentrationslagers einleitet, folgen, beginnend mit dem „Gesang von der Rampe“, einer auf Steigerung abzielenden Dramaturgie. Im „Gesang von der Schaukel“ kommen die Folterverhöre politischer Gefangener zur Sprache. Im „Gesang von der Schwarzen Wand“ geht es um die willkürlichen lagerinternen Hinrichtungen. Im 5. Gesang „vom Ende der Lili Tofler“ wird die Legende von der „befehlsbestimmten Verantwortung“ widerlegt: Die Gefangene Lili Tofler wurde erst vom SS-Oberscharführer Wilhelm Boger mit Scheinhinrichtungen gequält und dann mit zwei Herzschüssen getötet, weil sie einen Brief an ihren ebenfalls inhaftierten Freund geschrieben hatte.

Der „Gesang vom Unterscharführer Stark“ exemplifiziert die Auswirkungen von ideologischer Schulung und Drill. „Herr Vorsitzender, uns wurde das Denken abgenommen“, rechtfertigt der zu Beginn seines Dienstes im Lager kaum zwanzig Jahre alte Adjutant sein Mitläufertum, und für Verbrechen gegen die Menschlichkeit liefert Stark mit entwaffnender jugendlicher Naivität die Erklärung, ihm sei doch immer wieder „eingehämmert“ worden, wie Juden zu behandeln seien.

Im „Gesang vom Phenol“ geht es um die von KZ-Ärzten veranlaßten tödlichen Phenol-Injektionen. Am Ende stehen die Gesänge „vom Zyklon B“ und „von den Feueröfen“. Zitiert wird der Ausspruch des Lagerkommandanten: „Jetzt bin ich doch beruhigt, jetzt haben wir das Gas, und all diese Blutbäder bleiben uns erspart.“

„Die Ermittlung“ löste nach der Uraufführung 1965 Diskussionen darüber aus, ob das Grauen der Tötungsfabriken sich überhaupt für eine künstlerische Bewältigung eignet. Konterkariert nicht das Bemühen, die Zeugenaussagen und Tätereinlassungen möglichst unverfälscht und authentisch szenisch zu reproduzieren, den Anspruch an die Kunst zu abstrahieren und zu fiktionalisieren? Formal ein Theaterstück, ist „Die Ermittlung“ in der Wahrnehmung des Zuschauers weniger Kunst als Gericht in Bühnenform. Regisseur RP Kahl hat sich für seine Filmadaption an Interpretationen des Textes orientiert, die auf Stilisierung und Theatralik zugunsten eines zwar – wie vom Autor beabsichtigt – rhythmisierten, ansonsten aber nüchternen, distanzierten und entemotionalisierten Sprechens verzichten.

Das Ergebnis ist, wie immer, wenn Auschwitz verhandelt wird, schwer zu ertragen und erinnert an die schon erwähnte Pionierarbeit von Claude Lanzmann und die Filme über den Eichmann-Prozeß von 1961. In Anbetracht von 240 Filmminuten wird sich der Sensationserfolg von „The Zone of Interest“ (JF 9/24) sicherlich nicht wiederholen, aber engagierte deutsche Lehrkräfte allgemeinbildender Schulen werden die Chance, zwei Geschichte-Doppelstunden in den Kinosaal zu verlegen, wohl in großer Zahl nutzen. Die Deutsche Film- und Medienbewertungstelle in Wiesbaden verlieh dem Film das „Prädikat besonders wertvoll“.


Fotos: Richter (Rainer Bock), Staatsanwalt (Clemens Schick), eine Häftlingszeugin (Christiane Paul), Verteidiger (Bernhard Schütz): Zeugenaussagen und Tätereinlassungen werden möglichst unverfälscht und authentisch szenisch reproduziert

Peter Weiss: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Suhrkamp, Berlin, gebunden, 240 Seiten, 9 Euro 


Kinostart ist am 25. Juli 2024