Der ICE hat den Bahnhof von Stralsund verlassen. Jetzt bewegt er sich auf Deutschlands größte Insel zu. Rügen. Noch eine kurze Fahrt über die Brücke. Erste Passagiere sind bereits dichter an die Fensterscheiben des Zuges gerückt. Dann ist sie zu sehen. Die Ostsee. Tiefblau empfängt sie ihre Gäste heute. Das ist nicht immer so. Gerade die stetig wechselnden Farben des hiesigen Meeres sind es, die im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Künstler in Verzückung versetzten und ihre Inspiration anregten.
Den Maler Caspar David Friedrich etwa, der, in Greifswald geboren, auf Rügen 1818 sein Gemälde vom Kreidefelsen erschuf. Am 5. September wird die Insel seinen 250. Geburtstag feiern. Auch Gerhart Hauptmann, Theodor Fontane, Ernst Moritz Arndt und Johannes Brahms zog die Insel zu ihren Lebzeiten in ihren Bann. Nicht zuletzt deshalb wird Rügen gern auch als Insel der Romantik bezeichnet.
Letzte Station. Ostseebad Binz. Der Zug hält. Und draußen scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Ein schmuckes Bahnhofsgebäude mit weiß verputzter Fassade, roten Ziegeldächern und einem kleinen Türmchen obendrauf empfängt die Ankommenden. Dann heißt es eintauchen in die gemächlich-geruhsame und gemütliche Atmosphäre Rügens, die zum Charme der Insel beiträgt.
Zum Meer ist es nicht weit, nur wenige hundert Meter. Vorbei an duftenden Ligusterhecken hin zur Strandpromenade, wo sich wie Perlen aufgereiht die architektonisch kreativ gestalteten Prachtvillen des 19. Jahrhunderts befinden. Ein zweiter Blick über das gerade dunkelblau schimmernde Meer. Richtung Nordwest. Fern am Horizont sind sie schon von hier aus zu sehen. Rügens berühmteste Wahrzeichen: die Kreidefelsen. Majestätisch und weiß leuchtend erheben sie sich aus dem Dunkelblau, bedeckt mit einer Krone aus grünem Laub.
Ein Farbenspiel, das sich im Ostseebad Binz wiederholt. Vor der dunkelblauen Ostsee liegt hier weißer Sandstrand. Beständig leckt die weiße Gischt der stetigen Wellen an ihm, während Besucher das wiederkehrende Schauspiel beim Blick durch das Grün mächtiger Eichen- und Kiefernbäume beobachten können. Und davor, eingebettet in eine Allee aus weiteren Bäumen, die belebte Strandpromenade, auf der neben den Touristen auch immer mal wieder weiße Möwen flanieren.
Hinter der Promende: Die geschichtsträchtigen Villen. Die Fassaden ebenso weiß wie der Strand, die Dächer zumeist mit verschnörkelten Türmchen versehen. Doch halt. Hatte es in Theodor Fontanes Roman „Effi Briest“ nicht geheißen, „nach Rügen reisen, heißt nach Sassnitz reisen?“
Also zunächst auf nach Sassnitz, zur Halbinsel Jasmund, in dessen gleichnamigem Nationalpark sich schließlich auch die Kreidefelsen samt Königsstuhl befinden. Villen, Wellen und Möwen müssen warten. Ebenso wie ein gutes Dutzend Reisender, die ebenfalls den Bus in den Erholungsort auf der Halbinsel nehmen wollen. Ist er dann aber mal da, hält er dafür an nahezu jeder Milchkanne. Sage und schreibe 21 Haltestellen klappert das öffentliche Gefährt ab, bis es die knapp 10.000 Einwohner zählende Hafenstadt erreicht.
Wandern durch den Nationalpark oder entlang der Steilküste
Vom Meer aus, so heißt es, soll Sassnitz wie die italienische Stadt Genua aussehen. Vielleicht, weil das Wasser hier am Hafen gelegentlich wie in mediterranen Gefilden grünlich und türkis schimmert. Vielleicht hat aber auch einfach ein Matrose beim Blick vom Meer auf die Stadt vorher zu stark in die Flasche geschaut.
Denn eigentlich ist es ein typisch norddeutsch-maritimes Flair, das hier vorherrscht. Fischbrötchen-Buden. Vor Anker liegende Kutter. Und wer die Sassnitzer Küste entlang spaziert, taucht vielmehr tief in die deutsche als in die italienische Seele ein. Fontane inspirierte der Ort dazu, Anregungen für seinen 1896 entstandenen Roman „Effi Briest“ einzufangen. Caspar David Friedrich war hier, um das unvergleichliche Farbenspiel für seine Malerei zu nutzen, was 1818 zum Gemälde „Kreidefelsen auf Rügen“ führte, das Weltruhm erlangen sollte. Und Johannes Brahms komponierte hier 1876 den letzten Satz seiner ersten Sinfonie. Auch die deutsche Kaiserin Auguste Viktoria nutzte Sassnitz 1890 für einen längeren Sommerurlaub in der Villa Martha. Selbst der Kommunistenführer Lenin war hier, befand sich während des Ersten Weltkriegs von seinem Schweizer Exil aus Richtung Petrograd in Sassnitz auf der Durchreise.
Auf Durchreise befindet sich auch die JF. „Entweder lange wandern oder den Anschluß Richtung Lohme nehmen“, ruft der Busfahrer. Wandern geht hier mehr als ausgiebig. Entweder quer durch den mächtig bewaldeten Nationalpark Jasmund oder unten am Wasser entlang der Steilküste. Besonders reizvoll: der Weg über dem Wasser auf dem Hochuferweg, auf dem man einen noch spektakuläreren Blick auf die Farbenspiele der Ostsee hat. Acht Kilometer Fußmarsch sind das von Sassnitz aus bis zum Königsstuhl.
Schneller geht es mit dem Anschlußbus weiter Richtung Lohme, einem alten Fischerdorf, das ebenfalls für einen Vergleich mit Italien herhalten muß und aufgrund seines atemberaubenden Ausblicks von der Steilküste hinaus auf das Meer als das Capri der Insel Rügen gilt.
Hier heißt es auf einem Großparkplatz im Ortsteil Hagen aussteigen. Der Königsstuhl ist von hier aus noch etwa drei Kilometer entfernt. Ein Shuttle-Bus bringt Besucher dorthin. Einige haben sich aber ihren Rucksack auf den Rücken geschnallt, wollen lieber zum Königsstuhl wandern. Die JF wandert auch mit.
Der Himmel dabei: wenig einladend, von frustgrauen Wolken verdeckt. Caspar-David-Friedrich-Wetter. Hinein geht es ins Dunkel der hochstämmigen Bäume, von denen schon Ernst Moritz Arndt in seinem Gedicht „Heimweh nach Rügen“ schrieb: „O Land der dunkeln Haine,/ O Glanz der blauen See,/ Du Eiland das ich meine,/ Wie thut’s nach dir mir weh!“
Das Dunkel der Haine ändert sich nach Erreichen des Nationalpark-Zentrums Königsstuhl schlagartig. Auch wenn die See eher grau ist an diesem Tag, so ist das Farbenspiel zwischen Kreidefelsen, Wald und Meer beeindruckend. Ein im April vorigen Jahres neu eingeweihter und freischwebender Skywalk führt als neue Aussichtsplattform an den spektakulärsten Abschnitt der Kreidefelsen heran.
Wie zum Empfang weht einem eine frische Brise Meeresluft ins Gesicht. Die Brücke vibriert beim begehen. Kein Wunder. Sie „schwebt“ 118 Meter über dem Meeresspiegel, gehalten von Stahlseilen. In Hufeisenform führt sie mit 90 Metern Länge und knapp 20 Metern Breite auf die alte, porös gewordene Besucherterrasse zu, stoppt vor ihr, um in einem Bogen vor dem Meer wieder zurück zum Land zu verlaufen.
Türkis schimmert hier heute nichts mehr im Meer. Die Wasseroberfläche bleibt grau wie der Himmel. Was die „Wow“- und „Wahnsinn“-Ausrufe der Besucher auf dem Skywalk trotzdem nicht verstummen läßt. „Jetzt weiß ich, warum das hier die Wiege der Romantik ist“, ruft jemand etwas weiter entfernt, offenbar ähnlich von der Steilküstenformation beeindruckt wie die deutschen Literaten, die sie reihenweise zu künstlerischen Höchstleistungen inspirierte.
Aber: „Die Kreideformationen, wie sie die Romantiker vorfanden, sind allerdings längst vergangen, weil sie sich im Laufe der Jahrhunderte ständig verändert haben“, erfährt der Besucher in der Erlebnisausstellung, daß man heute nicht mehr das sieht, was die Künstler von einst inspiriert hatte. Die Ausstellung befindet sich in einem Gebäude in unmittelbarer Nähe zum Skywalk.
Auf einer Fläche von 2.000 Quadratmetern schicken die Aussteller ihre Besucher mit Hilfe eines interaktiven Kopfhörersystems auf eine Zeitreise durch die Rügener Meeres-und Kreidefelsenlandschaft. Dabei können die Gäste unter vier verschiedenen Themenreisen wählen. In einem der zahlreichen Räume sorgen Spezialeffekte für Sturm, Regen, dunkle Wolken, Blitze und Donner. Dazu ertönen Zitate von Schriftstellern. „Düster und düsterer überzog sich der Himmel“, erklingt eine Stimme aus dem Kopfhörer, während das nachgestellte Gewitter in dem Raum an Intensität zunimmt und den Besucher in die damals von den Literaten empfundene mystische Stimmung eintauchen lassen soll. „Diese Felsen muß der Meeresgott selbst erschaffen haben“, ertönt eine andere Stimme mit einem Zitat des Lyrikers Hanns Cibulka.
Für den Bau der ebenfalls zumeist in weiß gehaltenen Prachtvillen im Ostseebad Binz war hingegen kein Meeresgott verantwortlich, sondern vielmehr Meister der Architektur, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit ihren kreativen Bauten verewigten.
Im Zentrum des Ganzen: das Kurhaus Binz, dessen imposanter Bau mitsamt seiner unmittelbaren Nähe zum weit ins Meer hineinragenden Anleger als Wahrzeichen des Ortes gilt und dessen kulturellen Mittelpunkt symbolisiert. Wie aus Puderzucker erschaffen steht es da. Direkt am weißen Sandstrand und dem blauen Meer, mit denen es farblich ein fantastisches Bild erzeugt.
Auch das Kurhaus stammt aus der wilhelminischen Zeit, wird am 22. Juli 1890 eröffnet, nachdem Berliner Bankiers mit der Ostseebad Binz AG Geld in den Ausbau des Seebades gepumpt hatten. Keine Geringere als die damals amtierende Kaiserin Auguste Viktoria zählt zu den ersten Gästen des Kurhauses.
Was vielversprechend beginnt, endet sechzehn Jahre später zunächst in einer Tragödie. Feuer zerstört das damals noch in Fachwerk erbaute Haus. Doch nur ein Jahr später entschließt sich der Gemeinderat dazu, den Bau neu zu errichten. Diesmal in Stein und nach den Plänen des Berliner Architekten und Jugendstil-Experten Otto Spalding.
Prachtvillen auf der Flaniermeile an der Strandpromenade
Es ist der Beginn des Kurhauses als Wahrzeichen des Binzer Seebades, das in den zwanziger Jahren von dem jüdischen Kaufmann Adalbert Bela Kaba-Klein erworben wird. Gemeinsam mit seiner Frau Anna Dorothea Bergner, einer Sozialdemokratin, leitet er das Hotel. „Schon damals zählten zahlreiche Künstler zu den Gästen des Hauses“, weiß das Personal hier zu erzählen. Dann kommen die Nationalsozialisten an die Macht, alles wird plötzlich anders. Im Zuge der Arisierung wird das Kurhaus 1938 enteignet und an Treuhänder übergeben. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, gehen die Besucherzahlen drastisch zurück. Als er endet, nutzen es Ausgebombte und Flüchtlinge als Zufluchtsstätte.
Das Gebäude selbst übersteht den Krieg ohne Schäden. Auf die Flüchtlinge folgen russische Soldaten als neue Bewohner. 1948 kehrt der ursprüngliche Besitzer Kaba-Klein nach Binz zurück, will sein Eigentum zurückerhalten. Tatsächlich spricht ihm das Landgericht Greifswald das Kurhaus 1950 wieder zu. Doch der Geschäftsmann hatte die Rechnung ohne das kommunistische Regime gemacht, das jetzt die Macht in der neu geschaffenen DDR ausübt. Nur drei Jahre später enteignet es Kaba-Klein erneut, verurteilt ihn zu zehn Jahren Zuchthaus und übergibt das Anwesen in die Hände der Nationalen Volksarmee, die es künftig als Erholungsheim für Offiziere nutzt.
Erst in den sechziger Jahren kehrt der Tourismus ins Kurhaus zurück, als das staatliche DDR-Reisebüro deren Leitung übernimmt. Es entwickelt sich zu einem beliebten Konferenzort für SED-Funktionäre, ehe es schließlich nach der Wiedervereinigung zurück in Privatbesitz gelangt und – ganz nach den Plänen Spaldings – rekonstruiert und modernisiert wird.
Geschichten wie die des Kurhauses haben auch die anderen umliegenden Prachtvillen zu erzählen. Etwa die Villa Baltik, einer jener weißfassadenen Prachtbauten mit weißen Säulen vor dem Eingang, großen Fenstern, mehreren Balkonen und dem in Binz fast schon obligatorischen Türmchen auf der Dachspitze. Der Rasen im Garten ist so akribisch gleichmäßig geschnitten wie die Hecken, die blühende Rosenbäume umzäunen.
Das Haus ist eines der ersten, das in der wilhelminischen Zeit an der Strandpromenade gebaut wird. 1888 ist es fertiggestellt, zwei Jahre vor dem Kurhaus. Damals trägt es noch den Namen „Villa Burmeister“ und war von dem gleichnamigen Architekten aus dem Rügener Ort Putbus errichtet worden. 1927 ist es ebenfalls Kaba-Klein, der auch die Villa erwirbt. Anfang der dreißiger Jahre verpachtet er das Anwesen an die Frau des Rittmeisters Eggers, die 1945 gemeinsam mit ihrer Familie vor den heranrückenden russischen Truppen mit einem der letzten Schiffe der KdF-Bewegung Richtung Westen flieht. Im Laufe der sich anschließenden DDR-Jahre ist die Villa wie viele andere der einstigen Prachthäuser zusehends heruntergekommen und sanierungsbedürftig geworden.
„Die Wiedervereinigung war für uns ein echter Glücksfall“, erzählen Einheimische des Ortes auf Nachfrage immer wieder nicht ohne eine Portion stolz über ihre heutige Puderzuckerbau-Flaniermeile an der Strandpromenade. Da ist etwa die Villa Glückspilz, die einzige Backsteinvilla an der Binzer Strandpromenade. Oder die Villa Haiderose und die Villa Quisisana mit ihren geschniegelten und gepflegten Vorgärten. Andere Häuser bestechen durch Kreativität, haben etwa eine Badewanne im Garten stehen und darin Blumen angepflanzt. Oder etwa die Holzvilla Undine, die zwar nicht farblich, aber doch vom Baustil ein wenig an Pippi Langstrumpfs Villa Kunterbunt erinnert.
Der Stolz der Binzer spiegelt sich auch in einer Freiluft-Ausstellung zu 125 Jahren Seebad Binz wieder, zu dessen Anlaß im Jahre 2009 noch heute 125 Tontafeln an der Strandpromenade in Nähe des Kurhauses hängen, auf denen die Ereignisse eines jeden Jahres festgehalten sind. Auch die Besucherzahlen des Ostseebades sind dort für fast jedes Jahr dokumentiert.
Rauher geht es hingegen auf dem langgezogenen Steg Richtung Fähre zu. Hier herrscht steife Brise statt laues Puderzucker-Lüftchen. Von hier fahren die Gäste des Seebades ab Richtung Kreidefelsen. Und können sich so von dem vom „Meeresgott erschaffenen“ Naturwunder auch von der Seeseite aus inspirieren lassen.
Fotos: Die Kreidefelsen sind das Wahrzeichen Rügens: Caspar David Friedrich hielt sie in einem seiner berühmten Gemälde fest , Robben: Auf Rügen lassen sich die Tiere hautnah erleben , Abendstimmung auf Rügen: Unvergleichliches Farbenspiel auf der Insel der Romantik, Villa Baltik: Noble Unterkunft, Urlauberin: Entspannung pur