© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 31-32/24 / 26. Juli 2024

Hatte Lenin eine Zeitmaschine?
Die Tageszeitung „Junge Welt“ verliert in einem skurrilen Prozeß gegen den Verfassungsschutz
Florian Werner

Lenin war nicht nur Schriftsteller, Revolutionär und Staatsmann, sondern offenbar auch Erfinder der Zeitmaschine. Eine grandiose Entdeckung, die das Verwaltungsgericht Berlin im Prozeß der Tageszeitung Junge Welt gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz gemacht hat. „Lenin ist jemand, der die freiheitlich-demokratische Grundordnung (FDGO) in energischster Weise bekämpft, indem er eine Einparteiendiktatur in Rußland errichtet hat“, so die Juristen, kurz bevor sie die Klage der marxistischen Tageszeitung gegen die Auflistung in Berichten des Verfassungsschutzes abwiesen – und so die Beobachtung einer etablierten Zeitung durch staatliche Behörden absegneten.

Verfassungsschutz listet „Junge Welt“ wegen Kapitalismuskritik

Die Junge Welt kreuzt solide Berichterstattung mit Agitprop, was historisch an Vorgänger wie den Vorwärts oder die Rote Fahne erinnert. An deren Blattgestaltung – neben dem Schwarz-Weiß des Textes wurde nur mit Rot gearbeitet – erinnern die Seiten der in Ostberlin entstehenden Jungen Welt oftmals.

Die „bürgerliche, historische Logik“, mit der das Verwaltungsgericht unterdessen die Figur Lenins einordnete, läßt sich nur durch Zeitreisen erklären. Die FDGO trat mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 in Kraft. Lenin wiederum starb 1924 – vor hundert Jahren. Wenn der Autor von „Staat und Revolution“ also die FDGO bekämpft haben soll, muß er zuvor mindestens 25 Jahre in die Zukunft gereist sein.

Der Vorwurf, den das Verwaltungsgericht Berlin der Jungen Welt macht, lautet: Wer Lenin sympathisch findet, übernimmt auch dessen Sichtweise. Ironie der Geschichte: In seinem Hauptwerk „Was tun?“ von 1902 hatte der russische Marxist die Gründung einer landesweit berichtenden Zeitung zur Hauptaufgabe erklärt, um die Demokratie im zaristischen Rußland zu erkämpfen.

Der Verfassungsschutz, auf dessen Kenntnisse sich das Gericht in seinen Stellungnahmen ausgiebig bezog, breitete die Anschuldigungen indes schon 2021 weiter aus. Verfassungsfeindlich sei schon die Annahme, daß in Deutschland überhaupt eine Klassengesellschaft existiere, wie die Behörde damals in ihrer Antwort auf eine Anfrage der Linkspartei erläuterte.

Die „Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit“ widerspreche der Menschenwürde. Folgerichtig sei auch das Ziel, den Kapitalismus als Gesellschaftsform zu überwinden, mit der FDGO unvereinbar. Bezeichnend auch die Auskunft des BfV, die Listung der Jungen Welt erfolge ganz bewußt, um dem Medium zu schaden. „Es ist gerade das Ziel dieser Norm, die Öffentlichkeit über verfassungsfeindliche Bestrebungen zu informieren, um diesen damit den weiteren Nährboden entziehen zu können.“

Doch scheint die Junge Welt tatsächlich etwas Ungeheuerliches im Schilde zu führen – zeigt sie ihren Lesern doch schon seit langem eine ulkige kleine Fotomontage auf ihren Seiten, auf der Lenin im Kreml sitzend zu sehen ist, wie er die erst seit 1947 im Druck befindliche Tageszeitung liest. Was, wenn es sich dabei gar nicht um eine Fotomontage handelt? Hat ein JW-Vertriebsmitarbeiter den russischen Revolutionär etwa mit Lesestoff aus der Zukunft versorgt? Zugegeben – wenn sich die Redaktion im Besitz einer Zeitmaschine befindet, muß der Staat aufpassen. Auf dem Foto sieht man den Gründer der Komintern sichtlich erheitert. Liest er womöglich schon den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts aus einer Ausgabe der JW im Jahr 2027, der die Auflistung der Zeitung untersagt?

Verlagsgeschäftsführer Dietmar Koschmieder jedenfalls zeigte sich unmittelbar nach Prozeßende entschlossen, dieses in „absurder Unlogik“ getroffene Urteil anzufechten. Das Gericht habe „eins zu eins das krude und dumme Zeug des Verfassungsschutzes übernommen“, klagte der Journalist, der seit den 1990ern für das Blatt arbeitet. Seine Zeitung werde alle Möglichkeiten ausschöpfen, um sich zu wehren.

Wohin die Erwähnung in Verfassungsschutzberichten führen kann, zeigt nicht zuletzt das Beispiel von Koschmieders ehemaligem JW-Kollegen Jürgen Elsässer. 1997 wurde dem DKP-Politiker im Streit um den künftigen Kurs der Linken von Elsässers Freunden eine Torte ins Gesicht geworfen. Heute bangen beide um ihr Lebenswerk.

Und auch eine weitere Koinzidenz spricht für die Existenz einer Zeitmaschine, von der Lenin, Koschmieder, das Verwaltungsgericht Berlin oder irgendwer anders zur Zeit exzessiven Gebrauch zu machen scheinen. Der Prozeß der Jungen Welt gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz findet seinen Präzedenzfall nämlich ausgerechnet im JUNGE FREIHEIT-Urteil von 2006.

Damals hatte diese Zeitung gegen den Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen geklagt, weil dieser über Jahre hinweg „Anhaltspunkte für den Verdacht auf rechtsextremistische Bestebungen“ zu wittern vorgab. Das Bundesverfassungsgericht kassierte damals ein Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf, wonach die junge freiheit kein Recht auf die Streichung der Erwähnung habe. Der Verlag werde durch die Auflistung zwar nicht an der Arbeit gehindert. Allerdings würden seine Wirkungsmöglichkeiten nachteilig beeinflußt. Diese Begründung ließe sich theoretisch auf die Junge Welt übertragen. Allerdings muß hierbei auch gesagt werden: Die junge freiheit besaß zu keinem Zeitpunkt ihrer Existenz jemals eine Zeitmaschine. Die Gefahr war also nie vergleichbar.

Internationale Medien sorgen sich um Pressefreiheit in Deutschland

Nicht nur heimische Blätter zeigten sich unterdessen besorgt über das Schicksal der Jungen Welt. „Wenn legitime Kritik zum vermeintlichen Verfassungsfeind wird, stirbt ein Stück Pressefreiheit einen stillen Tod“, betonte beispielsweise die Berliner Zeitung. Auch die internationale Presse äußerte sich erschrocken über den Gerichtsbeschluß. „Im Land von Karl Marx wird es immer schwieriger, den Marxismus zu verteidigen“, warnte etwa L’Humanité aus Frankreich. Der britische Morning Star wiederum sprach von einer „Schmutzkampagne“.

Für die Welt bezeichnete Deniz Yücel die im Gerichtssaal erhobenen Anschuldigungen als „Banane“. Das Publikum sei in Gelächter ausgebrochen, als der Jungen Welt angekreidet wurde, sie vertrete einen „Klassenstandpunkt“. Wer nun ebenfalls in sich hinein kichern will, sollte lieber achtgeben. Denn wie schon der Philosoph Walter Benjamin wußte, ist Lachen der revolutionärste aller Affekte – und somit für das Verwaltungsgericht Berlin womöglich ebenfalls verdächtig. 



Foto: Dietmar Koschmieder, Geschäftsführer der „Jungen Welt“, zu Beginn des Prozesses gegen das Bundes-innenministerium