Am 25. Juli 1934 wurde der österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß im Zuge eines NS-Putschversuches erschossen. In Österreich ist Dollfuß immer noch Ausgangspunkt zeitgeistig-infantiler Debatten: Ein ÖVP-Innenminister ging erst unlängst in die Knie, als er angegriffen wurde, peinlicherweise auch von den Freiheitlichen (!), weil sich in seinem Heimatort ein Dollfuß-Museum befand. Doch die Person und das Ereignis sind durchaus eine nähere Betrachtung wert.
Engelbert Dollfuß, kleingewachsen und jovial, war Weltkriegsoffizier (Kaiserschützen) und katholischer Verbindungsstudent (Franco-Bavaria), verheiratet mit einer Dame aus Pommern. Vor allem aber: Er war zwar selbst kein Bauer, aber Direktor des niederösterreichischen Bauernbundes, der mächtigsten Organisation der „schwarzen“ Reichshälfte. 1932 wurde er in einer Krisensituation zum Kanzler ernannt, wie viele meinten: zum Übergangskanzler, weil er einer Minderheitsregierung vorstand, die sich nur durch glückliche Zufälle von einer Abstimmung zur nächsten über Wasser halten konnte. Aus dieser Klemme befreite ihn eine Geschäftsordnungspanne des Nationalrates am 4. März 1933. Alle drei Präsidenten traten zurück, als erster der Sozialdemokrat Karl Renner; die Versammlung löste sich auf. Die Regierung sah darin eine Fügung des Schicksals. Denn bei den spätestens 1934 anstehenden Neuwahlen wären die Christlichsozialen unweigerlich zwischen Sozialdemokraten und Nationalsozialisten in eine Zwickmühle geraten. So aber konnte man von der „Selbstausschaltung des Parlaments“ sprechen und – ganz nach dem Muster der Monarchie – eine Zeitlang autoritär regieren.
Dollfuß galt als Mann des nationalen Flügels der Christlichsozialen. Die Berliner Regierung Franz von Papens hatte seine Ernennung begrüßt. Doch Hitler und die NSDAP forderten ultimativ eine Regierungsbeteiligung. Der NS-Landesinspektor für Österreich, der ehemalige Kommunist Theo Habicht, ließ Dollfuß wissen: Es gäbe nur die Wahl zwischen Krieg oder Frieden. Nach ersten Terroranschlägen ließ Dollfuß die NSDAP im Juni 1933 verbieten. Hitler war zwar später bereit, mit Konservativen wie Miklós Horthy in Ungarn und Ion Antonescu in Rumänien zu paktieren und dafür NS-affine Organisationen wie „Pfeilkreuzler“ und „Eiserne Garde“ fallenzulassen. Doch in Österreich war er zu keinem Kompromiß bereit. Alle Vermittlungsversuche scheiterten.
Die erste militärische Herausforderung für Dollfuß kam von links: Ein Teil des Schutzbundes, der verbotenen Wehrorganisation der Sozialdemokratie, probte am 12. Februar 1934 den Aufstand, der militärisch zum Scheitern verurteilt war. Das Gros der „roten“ Funktionäre war gegen den Aufstand gewesen. Dollfuß aber ließ daraufhin am 1. Mai 1934 eine neue Verfassung verabschieden, unter dem Titel „christlicher Ständestaat“ – eine Fassade, die niemanden überzeugte: Denn von berufsständischer Selbstverwaltung konnte genausowenig die Rede sein wie von einem „faschistischen“ System. Selbst das Kürzel „Austro-Faschismus“, das Dollfuß’ Koalitionspartner von den militanten Heimwehren auf ihre Fahnen schrieben, betonte in erster Linie die Unterschiede zum italienischen Original.
Inzwischen begann Hitler ungeduldig zu werden. Habicht verspreche ihm jede zweite Woche den Sturz Dollfuß’, aber es geschehe nichts. Habicht geriet in Zugzwang. Er ging auf einen Putschplan ein: Als neuer Kanzler war zunächst kein Nationalsozialist ausersehen, sondern ein Parteifreund von Dollfuß, Anton Rintelen, ebenfalls Mitglied einer katholischen Studentenverbindung. Durchführen sollten den Putsch ehemalige Bundesheerangehörige, die wegen NS-Nähe entlassen worden waren. Habicht suggerierte Hitler, das Bundesheer oder zumindest wesentliche Teile davon würden sich anschließen. Dabei hatten die Putschisten – genauso wie die „roten“ Februar-Kämpfer – nicht einmal die eigene Partei hinter sich. Ein Teil der „Illegalen“ unter Anton Reinthaller suchte den Ausgleich mit dem Regime und war gegen das Revoluzzertum. Die Putschisten firmierten unter der Bezeichnung „SS-Standarte 89“. Ihr Verhältnis zur SA war – wenige Wochen nach dem „Röhm-Putsch“ – gebrochen.
Die Putschisten ermordeten Dollfuß im Bundeskanzleramt
Der Plan der Putschisten war, in Bundesheer-uniformen zum Zeitpunkt der Wachablöse ins Bundeskanzleramt einzufahren. Das – aber auch nur das – gelang. Denn der Putsch war verraten worden. Derlei Gerüchte schwirrten freilich fast täglich durch die Luft. Doch Dollfuß schickte immerhin sein Kabinett heim. Die Putschisten fanden nur mehr ihn – und zwei seiner Minister – vor. Der Kanzler wollte durch einen Hinterausgang fliehen; er wurde eingeholt, widersetzte sich der Gefangennahme – und wurde offenbar im Zuge des Handgemenges von einer Kugel getroffen. Unklar ist bis heute, wer den zweiten, tödlichen Schuß abgefeuert hat. Für die Putschisten wäre der lebende Dollfuß als Geisel zweifellos wertvoller gewesen als der tote.
Doch die Putschisten waren führerlos: Ihr Kommandant hatte die Abfahrt des Lkw-Konvois versäumt. Sie waren auch isoliert. Denn von einer Unterstützung durch das Bundesheer konnte keine Rede sein. Da gab es zweifellos Sympathisanten, doch keiner wagte sich aus der Deckung. Einige Stunden herrschte in der Wiener Innenstadt kuriose Stille. Dann riegelten Polizei und Bundesheer das Gebäude ab. Verhandelt wurde nur mehr über freien Abzug, der zugesagt, dann zurückgenommen wurde unter dem Vorwand, man habe vom Tod Dollfuß’ schließlich noch nichts gewußt.
Hitler vollzog einen Kurswechsel: Die Aufrüstung steckte erst in den Anfängen. Er konnte vor der Saar-Abstimmung im Januar 1935 keine Krisen brauchen. Er schickte Habicht in die Wüste und nach Wien seinem ehemaligen Vizekanzler und Katholiken Franz von Papen als Gesandten – dessen Frau dort mit ihren Sottisen über Hitler auffiel. Mussolini hatte sich 1934 noch für Österreich stark gemacht. 1936 wurden im Zeichen der Völkerbund-Sanktionen gegen Italien die Karten dann neu gemischt.
Prof. Dr. Lothar Höbelt lehrt Neuere Geschichte an der Universität Wien.
Foto: Engelbert Dollfuß um 1933: Christlicher Ständestaat war nur eine Fassade,