Buchenwald war nicht das einzige KZ, in dem die Nationalsozialisten ihre Gegner gefangenhielten, erniedrigten und quälten. Es war auch nicht das älteste, nicht einmal das größte. Sein Name stand jedoch für das System und löste, wo immer er genannt wurde, Angst und Schrecken aus. Der Standort auf der Nordseite des Ettersberges hoch über der Stadt Weimar war bewußt gewählt: er war die Faust, die das Regime dem Bürgertum vors Auge hielt, um sie ihm bei Bedarf ins Gesicht zu schlagen.
In ihrem Widerwillen gegen den Bürger, der nach Weimar pilgerte, um dort seine Heroen, die Goethes und die Schillers zu verehren, standen die nationalen Sozialisten aber nicht allein. Sie teilten ihn mit den internationalen Sozialisten, die sich nach ihrem Sieg 1945 denn auch beeilten, die Nachfolge anzutreten. Das Konzentrationslager hieß nun Speziallager, in dem die neuen Herren ihre alten Feinde, die Bürger gefangenhielten und drangsalierten.
Die traurige Geschichte Buchenwalds war damit aber immer noch nicht zu Ende. Denn nach Auflösung des Speziallagers beschloß die SED, das Areal als Bühne für ihre Geschichtslegenden herzurichten. Als weithin sichtbares Wahrzeichen wurde der Glockenturm errichtet, der bis heute die Gegend beherrscht, davor Fritz Cremers große Figurengruppe aufgestellt, die ein Ereignis feiert, das es so nie gegeben hat, die angebliche Selbstbefreiung.
In seinem Roman „Nackt unter Wölfen“, einem Klassiker der DDR-Literatur, hatte Bruno Apitz die Legende ausgeschmückt. Der SED diente sie zur Begründung ihres Anspruchs, als Sieger aus der Geschichte hervorgegangen zu sein. Eugen Kogon, selbst jahrelang in Buchenwald gefangen, kannte sie nicht. Als am Vormittag des 11. April 1945 die US-amerikanischen Panzer dem Lager näherkamen, zog die SS ab, „die Würfel waren gefallen“, heißt es in seinem Bericht. Die Häftlinge durchschnitten den Stacheldraht, besetzten die Wachtürme und hißten die weiße Fahne. Kogon spricht von Befreiung, doch nicht von Selbstbefreiung.
Der DDR war das zu wenig. Sie bestand auf dem bewaffneten Kampf, auf Heroismus und Triumph, und wenn es davon nicht genug gegeben hatte, wurde der Rest eben ergänzt oder erdichtet. Die Einheitspartei suchte nach einer historischen Legitimation. Weil die auf geradem Wege nicht zu haben war, mußte die Geschichte verbogen, unterdrückt oder verherrlicht werden – nicht zum ersten und leider auch nicht zum letzten Mal in Deutschland.
Das war die Lage, die eine Historikerkommission vorfand, als sie 1991 gebeten wurde, sich über die nicht nur räumliche Kontinuität von KZ, Speziallager und verordnetem Antifaschismus ein Bild zu machen und das vertrackte Erbe darzustellen. Eine heikle Aufgabe, die auf Empfindlichkeiten und Befangenheiten, offene Einwände und verborgene Widerstände stieß, die sich bis heute nicht verloren haben. Denn leicht beieinander wohnen die Gedanken, wie der Historiker Lothar Gall, Schiller zitierend, zu bedenken gab, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.
Sich damit abzufinden fällt linken Parteihistorikern aber genauso schwer wie rechten. Sie wollen von einer Last befreit werden, die ihre Kräfte übersteigt, und da sie in Deutschland leben, gibt es Agenten und Agenturen genug, die ihnen diesen Wunsch erfüllen. Zwei Bücher aus dem in Freiburg ansässigen Ahriman-Verlag – die Wiederkehr des Verdrängten ist sein Programm – führen vor, wie man das macht. Nur deshalb verdienen sie Beachtung.
Das eine heißt „Der Junge von Block 66“, steht in der Nachfolge von Bruno Apitz und bemüht sich, seinen Roman nachträglich auf eine harte Basis zu stellen. Was aber nicht gelingt, da sich der Erzähler zur entscheidenden Zeit verstecken muß, als Augenzeuge also ausfällt. Um die Lücke zu füllen, springt die Herausgeberin mit der Behauptung ein, die Häftlinge hätten noch zwei Tage lang, „bis zum Eintreffen der amerikanischen Infanterie“, die Kontrolle über das Lager behalten. Sie empfiehlt, sich über den Hergang bei Ernst Haberland zu unterrichten, einem ehemaligen Häftling, der seine Erinnerungen unter dem Titel „Der Pelerinenmann“ veröffentlicht habe, erschienen ebenfalls bei Ahriman.
Wer dem Hinweis folgt und vor Geschichtsklitterung nicht zurückschreckt, kommt auf seine Kosten. Der Verfasser war seinerzeit Oberst der Nationalen Volksarmee, ausgezeichnet mit dem Karl-Marx-Orden der ehemaligen DDR. Sein Buch wird als ein Schlüsselwerk gepriesen, als ein Bericht aus erster Hand, als einzigartiges historisches Dokument, das in der finsteren BRD aber chancenlos gewesen sei und deshalb erst jetzt erscheinen könne. Sollte der Leser vergessen haben, daß er es mit Propagandaliteratur und fake history zu tun hat, wird er zum Schluß noch einmal darauf hingewiesen. Mit dem Aufbau „unserer sozialistischen Demokratischen Republik“, schreibt der Autor, sei etwas in Erfüllung gegangen, wofür die revolutionäre deutsche Arbeiterbewegung Opfer gebracht und generationenlang gekämpft habe.
In beiden Büchern sind die Versatzstücke eines Geschichtsbildes, das von der Wirklichkeit tausendfach widerlegt worden ist, einigermaßen vollständig versammelt. Konrad Adenauer erscheint als klerikaler Halbdiktator, Heinrich Lübke als KZ-Baumeister, Winston Churchill als Antikommunist, der den Eisernen Vorhang nicht nur erfunden, sondern auch niedergelassen habe. Am schlimmsten ergeht es den US-Amerikanern: sie hätten sich mit den Faschisten verbündet, um den von der Geschichte vorgezeichneten Siegeslauf des Kommunismus aufzuhalten. „Das sind unsere künftigen Feinde“, bemerkt denn auch ein linientreuer Häftling mit Blick auf die amerikanischen Soldaten, die ihn von seinen Peinigern befreit hatten.
Im Vorwort zu seinem Buch über den SS-Staat hatte Kogon die Geschichte als das Arsenal unserer Erfahrungen bezeichnet: man müsse sie kennen, um aus ihr bestätigt oder gewarnt zu werden. Indem sie uns den Spiegel vorhält, zeige sie uns „nicht irgendwelche Scheusale, sondern dich und mich“. Von soviel Skepsis, Skepsis gegen sich selbst, sind die modernen Gurus weit entfernt. Eine Friedenspreisträgerin geniert sich nicht, ihre ephemeren Betrachtungen unter dem Titel „Was wahr ist“ zu verbreiten; und findet damit Zustimmung. „Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen“, hatte Lessing gesagt – ein großartiges Wort, wie Hannah Arendt meinte. Von dem wollen unsere fortschrittlichen Zeitgenossen aber nichts mehr hören. Sie glauben über Arendt und Lessing, vielleicht sogar über Gott hinaus zu sein.
Fritz Erik (Hrsg.): Der Pelerinenmann. Die Selbstbefreiung der Buchenwalder Häftlinge, erzählt von ihrem Organisator Ernst Haberland. Ahriman Verlag, Freiburg 2024, broschiert, 266 Seiten, 12,80 Euro
Fotos: Aufstellung sowjetischer Soldaten vor dem Buchenwald-Denkmal 1965: Bühne für Geschichtslegenden der DDR