Die Bundestagsfraktionen von SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU sind sich einig, daß sie das Bundesverfassungsgericht vor den „falschen Parteien“ schützen müssen. In einer gemeinsamen Pressekonferenz teilten sie am 24. Juli mit, man wolle 75 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes die „Resilienz des Bundesverfassungsgerichts“ stärken. Dazu müssen sie das Grundgesetz ändern. Dies sei notwendig, denn dadurch solle der „Status des Gerichts als Verfassungsorgan deutlicher ausgeformt“ und die „Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit des Gerichts im Grundgesetz selbst abgesichert werden“.
Was hat diese Koalition von Union und Ampel vor? Zunächst möchte sie Vorschriften im einfachen Bundesrecht über die Richterwahl und die Organisation des Verfassungsgerichts ins Grundgesetz übertragen. Das soll eine mögliche Regierungskoalition „falscher Parteien“ daran hindern, diese Vorschriften zu ändern, denn für die dann nötige Änderung des Grundgesetzes braucht man eine Zweidrittelmehrheit. Es ist also eine Verfassungsänderung für den Fall, daß es nach einer Wahl tatsächlich eine Regierungsmehrheit von Parteien jenseits der Brandmauer gibt, die etwa die Zahl der Senate und die Richterwahl nach ihren Vorstellungen verändern könnte.
Praktisch relevanter ist aber das zweite Regelungsziel: Nach der jetzigen Rechtslage erfolgt die Wahl der Verfassungsrichter mit zwei Dritteln der Stimmen von Bundestag und Bundesrat. Falls nach der Bundestagswahl die „falschen Parteien“ über mehr als ein Drittel der Stimmen verfügen sollten, wären die anderen Parteien gezwungen, mit diesen „falschen“ zu verhandeln und einen Kompromiß einzugehen. Um das zu verhindern, soll das Grundgesetz geändert werden. Auf eine Richterwahl durch den Bundestag würde künftig verzichtet werden, wenn sich der Bundestag nicht auf einen Kandidaten verständigt. Die Richterwahl erfolgt dann allein durch den Bundesrat.
Die geplante Grundgesetzänderung ist gegen die AfD und ihre möglichen Koalitionspartner, beispielsweise die WerteUnion gerichtet. Es soll in erster Linie verhindert werden, daß ein erfolgreiches Abschneiden dieser Parteien bei der Bundestagswahl die linke Dominanz im Hohen Haus und beim Bundesverfassungsgericht gefährden könnte.
Bei der beabsichtigten Grundgesetzänderung geht es nicht darum, „falsche Kandidaten“ zu verhindern – denn auch diese würden eine Zweidrittelmehrheit benötigen –, sondern es geht darum, auszuschließen, daß Kompromisse mit den „falschen Parteien“ gemacht werden müssen. Vorgeschoben wird, daß diese Regelung vor einer Blockade der Richterwahl schützen soll. Der wirkliche Grund besteht darin, Gespräche auf Augenhöhe, offene Verhandlungen und demokratische Kompromisse zu blockieren. Die Brandmauer soll um jeden Preis aufrechterhalten werden.
Die beabsichtigte Grundgesetzänderung hätte zur Folge, daß eine AfD-geführte Parlamentsmehrheit über zwei Drittel der Mandate im Bundestag verfügen müßte, um die Richterwahl zu beeinflussen. Solange das nicht möglich ist, kann die Richterwahl über den Bundesrat ohne Rücksicht auf „unerwünschte Parteien“ laufen wie bisher. Ein Weiter so bei der Richterwahl wäre sichergestellt, fast egal, wie die Wähler abstimmen. Denn eines wäre sicher: CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP würden entscheiden.
Die vorgesehene Regelung ist verfassungspolitisch angreifbar. Der Sinn der für die Richterwahl notwendigen Zweidrittelmehrheit besteht darin, daß die Richter nicht nur von der aktuellen Regierungsmehrheit legitimiert sind, sondern von einem breiten Teil des Parlaments und damit mittelbar von der Bevölkerung mitgetragen werden, damit sie überparteilich sind. Würde aber ein größerer Teil der Bevölkerung bei der Richterwahl ausgespart werden, liefe dies dem Konzept der Überparteilichkeit der Richter zuwider. Auch eine Richterwahl allein durch den Bundesrat wäre verfassungspolitisch zweifelhaft, denn der Bundesrat ist als Verfassungsorgan nur eine Versammlung von Landesregierungen mit einem deutlich geringeren Maß an demokratischer Legitimation als der Bundestag.
Wichtiger ist aber etwas ganz anderes: Nach dem Grundgesetz haben alle Parteien die gleichen Rechte. Keine Partei ist gleicher. Dies gilt auch, wenn die Bundesregierung oder der Verfassungsschutz als eine ihrer Behörden eine Partei als extremistisch ansieht. Solange eine Partei nicht verboten ist, dürfen ihr Rechte nicht vorenthalten werden. Aber dies wird seit Jahren mit der AfD gemacht. Das ist nicht nur ein unfaires Foulspiel, es sind nicht nur Regelverstöße und schäbige politische Tricks, sondern es wird die Axt an eine tragende Säule der freiheitlich-demokratischen Grundordnung angelegt: Wer Brandmauern aufbaut, Sprechverbote gegenüber Menschen und nicht verbotenen Parteien verhängt, sie aus politischen Gründen ausgrenzt, ausschließt und benachteiligt, beschädigt unsere freiheitliche Demokratie.
Mit der geplanten Grundgesetzänderung bringen die Kartellparteien – ja, sie verhalten sich wie ein Kartell – eine verfassungsfeindliche Haltung zum Ausdruck, die man so beschreiben kann: Wir sind die guten Parteien, die anderen sind die schlechten, und wir entscheiden, daß solche Parteien niemals Einfluß haben werden.
In einer freiheitlichen Demokratie entscheiden aber nicht die Parteien darüber, wer die „Guten“, wer die „Schlechten“ oder die „Falschen“ sind und wer Politik gestalten darf, sondern das Volk.
Diese Haltung der Kartellparteien läßt aber noch schlimmeres befürchten: Wenn sie unter allen Umständen verhindern wollen, daß gewählte Abgeordnete der „falschen Parteien“ Einfluß auf die Wahl von Richtern haben, ist ihnen auch zuzutrauen, daß sie Wahlergebnisse nicht akzeptieren, daß sie fordern, „Wahlen rückgängig“ zu machen, und daß sie alles unternehmen werden, um eine Politikwende in Deutschland zu verhindern. Das muß man realistisch sehen. Und das sollten wir nicht zulassen.
Hans-Georg Maaßen, Ex-Bundesverfassungsschutzpräsident, lehrte am Europäischen Zentrum für Staatswissenschaften (FU Berlin) und war Autor eines Grundgesetz-Kommentars. Er führt die Partei Werte-Union.