© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/24 / 09. August 2024

„Frau Faeser sollte in sich gehen“
Interview: Wie weit reicht das Grundrecht auf Meinungsfreiheit? Diese Frage wirft das Compact-Verbot erneut auf. Antwort gibt der ehemalige Bundesminister und Staatsrechtler Rupert Scholz: viel weiter als die Innenministerin und der Verfassungsschutz offenbar ahnen
Moritz Schwarz

Herr Professor Scholz, kurz vor dem wohl als historisch zu betrachtenden Verbot des „Compact“-Magazins haben Sie diesem noch ein Interview gegeben. Warum?

Rupert Scholz: Ich bin ein offener, medienfreundlicher Mensch, wenn jemand auf meine Meinung Wert legt, äußere ich mich gerne.

Was halten Sie von „Compact“?

Scholz: So genau habe ich mich damit gar nicht beschäftigt. Sicher, mir ist keineswegs alles sympathisch, was darin steht, aber ich führe keine Gesinnungskontrolle durch. Schließlich herrschen in unserem Land Meinungs- und Pressefreiheit, warum also sollte ich nicht dementsprechend handeln?

Die „Süddeutsche Zeitung“ etwa ist pikiert und fragt alarmiert, ob es sich bei Ihnen um „einen neuen Fall Hans-Georg Maaßen“ handelt.

Scholz: Nach meinem Wissen steht die SZ damit allein auf weiter Flur. Sie sollte vor allem mit dem unsinnigen Vorwurf des Populismus vorsichtiger und selbstkritischer umgehen. Bei Herrn Maaßen, den ich verschiedentlich persönlich erlebt und auch kennengelernt habe, handelt es sich um einen aufrechten und sehr guten Juristen, den ich schätze und der nicht im geringsten mit unserem Grundgesetz kollidiert, weshalb mich seine Einstufung durch den Verfassungsschutz überrascht. 

Hat Sie auch das „Compact“-Verbot überrascht?

Scholz: Man kann das Heft mögen oder auch nicht – aber das allein rechtfertigt noch kein Verbot.

Warum nicht?

Scholz: Weil Artikel 5 unseres Grundgesetzes Presse- und Rundfunkfreiheit unter besonderen Schutz stellt, sofern nicht gegen Strafgesetze verstoßen wird – was ich wenigstens aufgrund der Begründung des Compact-Verbots noch nicht erkennen kann.

Also handelt es sich bei dem Verbot um eine Verletzung unserer Verfassung: wie schwerwiegend ist diese?

Scholz: Das werden uns die Gerichte sagen.

Mehrfach ist das Verbot mit dem Vorgehen gegen den „Spiegel“ 1962 verglichen worden, das gemeinhin als der bisher schwerste Angriff auf die Pressefreiheit gilt.  

Scholz: Ich halte nichts davon, die Fälle unmittelbar zu vergleichen. 

Warum nicht, muß man nicht feststellen, daß „Compact“ den Fall „Spiegel“, der nicht verboten wurde, sogar noch übertrifft?  

Scholz: Ich halte nichts davon, weil zum einen sich die Zeiten sehr verändert haben und damit auch die Auslegung der Verfassungsnormen. Zum anderen ging man damals direkt gegen das Presseorgan Spiegel und dessen Redaktion vor, während man diesmal das Verbot über Artikel 9 Grundgesetz, also das Vereinsrecht aufgezogen hat. Das garantiert zwar allen Deutschen, Vereine und Gesellschaften zu bilden – in Absatz 2 allerdings besagt es, daß „Vereinigungen, deren Zwecke oder Tätigkeit Strafgesetzen zuwiderlaufen, sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richten, verboten sind“. Auf diese Weise trifft das Verbot diesmal nicht das grundgesetzlich geschützte Presseorgan selbst, sondern scheinbar „nur“ seinen wirtschaftlichen Trägerverein. 

Also fußt das Verbot selbst auf einer Verfassungsnorm. Woher dann die Zuversicht etlicher Experten, die von seinem Scheitern ausgehen?

Scholz: Weil – und so sehe ich das auch – zu glauben, man könne zwischen Verfassungsnormen auswählen, um ein Ziel zu erreichen, ein Fehlschluß ist.

Ein „Fehlschluß“? Das Verbot ist doch wohl kaum ein Irrtum. Handelt es sich nicht vielmehr um einen gezielten Anschlag auf unser Grundgesetz?

Scholz: Das ist Ihre Deutung – juristisch gesehen ist entscheidend, daß ein Fehler vorliegt. Denn da die verbotene Vereinigung eine Zeitschrift herausgibt, ist dieses genaugenommen gegen sie gerichtet. Damit aber ist nicht mehr Artikel 9 maßgebend, sondern Artikel 5 – dessen Hürde das Verbot aber kaum zu nehmen vermag.

Warum ist eine offensichtlich vorsätzliche Verletzung des Grundgesetzes nur ein „Fehler“ und kein Verfassungsbruch? 

Scholz: Erstens ist Verfassungsbruch lediglich eine abstrakte Ausdrucksweise, juristisch gesehen ist etwas nur verfassungsmäßig oder verfassungswidrig. Zweitens bedeutet „verfassungswidrig“ die Feststellung eines materiell-rechtlichen Verstoßes gegen eine Verfassungsnorm, also einen Grundgesetzartikel, oder aber das Grundgesetz insgesamt. 

Ist es nicht in jedem Fall absichtsvoll und damit kein Fehler, sondern verfassungsfeindlich? 

Scholz: Nein, denn verfassungswidrig ist nicht gleich „verfassungsfeindlich“. Dazu bedarf es mehr, etwa daß Kritiker oder Gegner des Grundgesetzes auch zu entsprechenden Aktionen aufrufen oder ihre Ablehnung in aggressiver Form äußern.

Weder „Compact“ noch zum Beispiel die AfD lehnen das Grundgesetz ab, geschweige denn rufen aggressiv dagegen auf. Dennoch landen sie als „rechtsextrem“, sprich verfassungsfeindlich, im Verfassungsschutzbericht. Und zwar indem der Bericht vermeintlich oder tatsächlich verfassungswidrige Äußerungen auflistet und daraus ihre Verfassungsfeindlichkeit ableitet. Wenn sich diese aber bei „Compact“ und AfD aus vermeintlich oder tatsächlich verfassungswidrigen Äußerungen schlußfolgern läßt, warum dann nicht ebenso bei Regierung und Regierungsparteien? Zumal deren – übrigens zahlreiche, wie Karlsruher Urteile regelmäßig beweisen – verfassungswidrige Akte weit schwerer wiegen, da sie nicht nur verbal, sondern auch – wie im Fall des „Compact“-Verbots – real sind.  

Scholz: Jeder Akt des Staates genießt zunächst einmal die Vermutung der Richtigkeit und Rechtmäßigkeit. Erst wenn er mutmaßlich gegen das Grundgesetz verstößt, kann er durch den Gang nach Karlsruhe überprüft werden. Aber auch wenn meiner Einschätzung nach Compact durchaus Chancen hat, bedeutet ein Erfolg nicht, daß die Innenministerin verfassungsfeindlich gehandelt hätte.

Das mag de jure so sein. Aber wenn bei der Opposition (angebliches oder tatsächliches) verfassungswidriges Reden bereits reicht, um als „verfassungsfeindlich“ zu gelten, während bei der Regierung dieser Schluß nicht einmal angesichts gerichtlich nachgewiesenem verfassungswidrigem Handeln zulässig ist, dann wird doch auf eklatante Weise mit zweierlei Maß gemessen. Verstehen Sie, daß das Bürger aufbringt? Und zwar, wie man an Stimmung, Umfragen, Wahlergebnissen ablesen kann, in wachsender Zahl. Und wenn wir Pech haben irgendwann nicht mehr nur gegen die Politik, sondern gegen unser politisches System als solches. Dann nämlich, wenn es, wie etwa auf diese Weise, von immer mehr Deutschen als ungerecht erlebt wird.

Scholz: Es gibt offenkundig kritische Sachverhalte, in denen manche Bürger fürchten, ihre Meinung nicht mehr ganz frei äußern zu können. Insgesamt aber ist unsere Demokratie doch nach wie vor stabil und intakt und wird von der Mehrheit unserer Bürger auch so empfunden.  

Mit zweierlei Maß mißt die Ampel auch bei ihrer inzwischen ganz offenen Bekämpfung von Meinungsäußerungen „unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“ (Lisa Paus), „verbalen und mentalen Grenzverschiebungen“ (Thomas Haldenwang) oder „Staatsverhöhnung“ (Nancy Faeser). Was erlaubt uns die grundgesetzliche Meinungsfreiheit tatsächlich zu sagen oder zu publizieren und was nicht?

Scholz: Das kommt natürlich auf die einzelne Äußerung an, grundsätzlich aber sind erst die Strafgesetze die maßgebliche Grenze, etwa die Erfüllung des Tatbestands der Verleumdung oder der Volksverhetzung. Ansonsten gilt das verfassungsmäßige Grundrecht der Meinungsfreiheit, was übrigens auch verfassungskritische, ja sogar die Verfassung ablehnende Äußerungen einschließt.

Sprich, selbst wenn „Compact“ offen verfassungsfeindlich wäre, könnte es deshalb nicht verboten werden?

Scholz: Ja, es ist erstaunlich, aber das Grundgesetz garantiert auch die Freiheit, es ersetzen oder abschaffen zu wollen: das ist der liberale Rechtsstaat! Die Grenze ist erst erreicht, wenn man dazu auffordert, dies mit rechtswidrigen, gar gewalttätigen oder revolutionären Mitteln, also in strafbarer Weise, zu tun. 

Wie sieht es bei Parteien aus?

Scholz: Sehr ähnlich, da sie durch Artikel 21 Grundgesetz in ihrer Freiheit geschützt sind. Das heißt – und das hat das Bundesverfassungsgericht klar entschieden –, auch sie genießen das Recht, verfassungsfeindlich sein zu dürfen. Zumindest solange sie nicht gegen Gesetze verstoßen oder, wie Karlsruhe das nennt, in „aggressiv-kämpferischer“ Weise gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung vorgehen. 

Und wann wäre das der Fall?

Scholz: Das ist Ermessenssache, aber immer, ganz gleich ob es um eine Partei, ein Presseorgan, einen Verein oder Bürger geht, hat darüber ein Gericht zu entscheiden und nicht nur eine Behörde wie das Innenministerium oder der Verfassungsschutz. 

Da dieser seine Kompetenzen überschreite, haben Sie bereits öffentlich „Konsequenzen“ gegen seinen Präsidenten Thomas Haldenwang gefordert. Warum genau?

Scholz: Weil er ein undemokratisches Amtsverständnis offenbart, wenn er sich anmaßt, daß seine Behörde über den Rahmen des Strafrechts hinaus der Meinungsfreiheit Grenzen setzten kann, etwa durch Beschlüsse, Beobachtung oder willkürliche öffentliche Kommentierung. Solche Maßnahmen stehen dem Amt jedoch kaum zur Verfügung. Der Vorrang der Meinungsfreiheit muß unberührt bleiben. 

Herr Haldenwang argumentiert, verfassungsschutzrelevant sei, wer „den Staat delegitimiert“. Wie paßt dazu, daß die Meinungsfreiheit, wie Sie erklärt haben, sogar erlaubt, den Staat abzulehnen? 

Scholz: Gar nicht, denn das Grundgesetz kennt keine „Delegitimierung des Staates“. Im Gegenteil, es schützt, wie ausgeführt, sogar das Recht, dies zu tun! Sie können innerhalb der genannten Grenzen den Staat sogar hassen und öffentlich verhöhnen, das alles liegt in der Meinungsfreiheit. Herr Haldenwang sollte diese Formulierung also besser ganz schnell zurücknehmen, und ich frage mich, wie er überhaupt auf so eine Idee kommen kann.

Was vermuten Sie?

Scholz: Ich weiß es nicht.

Könnte seine Chefin, Frau Faeser, eine Rolle spielen?

Scholz: Das kann ich nicht sagen.

Als diese im Februar in der Bundespressekonferenz ihre Maßnahmen mit dem Satz begründete, „diejenigen, die den Staat verhöhnen, müssen es mit einem starken Staat zu tun bekommen“, soll sie gefragt worden sein, ob sie nicht selbst eine Gefahr für das Grundgesetz darstelle. Wie würden Sie diese Frage beantworten?

Scholz: Ich würde sagen, sie sollte in sich gehen und sich einmal über die enorme Reichweite der Meinungsfreiheit als konstituierendem Element unserer Demokratie vergewissern. Dann würde sie solche Äußerungen nicht mehr machen.

Ist das wirklich nur Inkompetenz, zielt Frau Faeser nicht vielleicht darauf, das Grundgesetz zu zersetzen?

Scholz: Nein.

Sie können wirklich keine Methode erkennen?

Scholz: Nein, das ist kein Thema.

„Delegitimierung des Staates“ ist doch nicht die einzige Formel, die „plötzlich“ Einzug gehalten hat. Was ist etwa mit dem „ethnischen Volksbegriff“ oder der Ableitung angeblicher Verfassungsfeindlichkeit aus Artikel 1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar“? Da ihre politischen Forderungen, etwa in Sachen Einwanderung, diese verletzten, gelten Parteien wie AfD, Werteunion und früher oder später vielleicht auch das BSW dem Verfassungsschutz als antidemokratisch. 

Scholz: Was gegen die Menschenwürde verstieße, wäre zum Beispiel die Einführung der Folter, nicht aber daß Migration kontrolliert und begrenzt werden muß. Was übrigens mit unserem Asyl- und auch dem Europarecht völlig übereinstimmt. Und zum Volksbegriff ist zu sagen, daß er zum Begriff der Nation führt, die wiederum, und das weltweit anerkannt, die Grundlage für das Selbstbestimmungsrecht darstellt. Denn die Nation hat zwei Komponenten: eine ethnische, also die Abstammung von einem Volk, und eine kulturelle, also die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft mit gemeinsamer historischer Erfahrung, Kultur und politischem Bekenntnis. 

So argumentieren auch „Compact“, AfD oder Werteunion, was für den Verfassungsschutz allerdings ein Indikator für ihre Verfassungsfeindlichkeit ist. 

Scholz: Der Verfassungsschutz hat sich an die rechtliche Regelung im Grundgesetz zu halten, wo es heißt: „Deutscher ist, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.“ Diese Staatsangehörigkeit ist die juristische Umsetzung der nationalen Identität. Sie zu problematisieren steht dem Verfassungsschutz gar nicht zu. Zumal sich Grundgesetz und Nationsbegriff gar nicht ins Gehege kommen, denn das Grundgesetz basiert auf der demokratischen Selbstbestimmung des deutschen Volkes.





Prof. Dr. Rupert Scholz: Der ehemalige Berliner Justizsenator und Bundesminister der Verteidigung hatte bis 2005 den Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität München inne sowie zuvor den Lehrstuhl für Öffentliches Recht der FU Berlin. Zudem ist er Mitherausgeber des führenden Grundgesetz-Kommentars Dürig/Herzog/Scholz. Bis 2002 saß er für die Union im Bundestag, war zeitweilig Vizefraktionschef und Leiter der Verfassungskommission. Geboren wurde Scholz 1937 in Berlin, wo er bis 2001 das Amt des stellvertretenden CDU-Landesvorsitzenden bekleidete.