Nach der Wahlrechtsreform ist vor der Wahlrechtsreform. Bald nach Verkündung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts haben Union und SPD Korrekturen an dem höchstrichterlichen Richterspruch verlangt. Danach ist die mit Ampel-Mehrheit beschlossene Reform im Kern verfassungskonform, die Streichung der Grundmandatsklausel allerdings verfassungswidrig. Juristische Zweifel mischen sich mit politischen Interessen. Fest steht: der Machtzuwachs der Parteiführungen und die Verkleinerung des Bundestages.
Es ließ aufhorchen, als Doris König, die Vorsitzende des Zweiten Senats, ohne juristische Verklausulierungen unterstrich: „Der Gesetzgeber kann Neuerungen einführen, die dem bisherigen Wahlrecht fremd waren, und Wählern ebenso wie Bewerbern und Parteien ein Umdenken abverlangen.“ Umdenken? Künftig ist ein Wahlkreissieg mit Erststimmen keine Garantie mehr für ein Bundestagsmandat. Denn das führte in der Vergangenheit dazu, daß manche Parteien mehr Sitze im Bundestag hatten, als ihnen nach dem Zweitstimmenergebnis eigentlich zustanden. Mit der Folge, daß wegen dieser Überhangmandate andere Fraktionen Ausgleichsmandate bekamen – und der Bundestag immer größer wurde.
Ein guter Listenplatz wird künftig noch wichtiger
Bereits bei der nächsten Bundestagswahl voraussichtlich am 28. September 2025 gilt das Zweitstimmendeckungsverfahren. Danach gibt es für die „Wahlkreiskönige“ mit den meisten Erststimmen nur dann eine Fahrkarte nach Berlin, wenn das Mandat von dem aus dem Zweitstimmenergebnis ermittelten Sitzkontingent ihrer Partei gedeckt ist. Wahlkreisbewerber tun gut daran, sich auf den vorderen Plätzen der Landesliste abzusichern. Ein gutes Verhältnis zu den Parteihierarchen ist wichtiger als früher.
Auf den Nominierungsparteitagen für die Bundestagswahl 2025 dürfte es ein Hauen und Stechen geben. Nach einer Modellrechnung der Bertelsmann-Stiftung auf der Basis des Wahlergebnisses von 2021 würde die SPD nur noch mit 188 Parlamentariern im Bundestag vertreten sein (vorher 206), die Grünen mit 107 (118), die FDP mit 83 (92), die CDU mit 138 (152), die CSU mit 38 (45) und die AfD mit 75 (83).
Die Linke hatte es 2021 mit 4,9 Prozent nur aufgrund der Grundmandatsklausel ins Parlament geschafft. Diese besagt: Parteien mit weniger als 5 Prozent der Zweitstimmen ziehen trotzdem mit allen Abgeordneten ins Parlament ein, sofern sie drei Direktmandate erzielt haben. In einer seltenen Allianz hatten die Linke und die CSU erfolgreich gegen den von der Ampel-Mehrheit beschlossenen Wegfall der Grundmandatsklausel geklagt. Die CSU holte in der Vergangenheit fast flächendeckend alle Direktmandate in Bayern, übersprang die Fünfprozenthürde bundesweit zuletzt aber nur knapp. Bei der Bundestagswahl 2025 gilt also weiterhin die Fünfprozenthürde plus Grundmandatsklausel. Und 2029?
Das Karlsruher Gericht hat dem Bundestag mehrere Möglichkeiten eröffnet. Er könnte die Fünfprozenthürde erneut beschließen, sie senken oder eine Listenverbindung von CDU und CSU verlangen. Aktuell muß nichts geändert werden. Ampel und Union fühlen sich als Sieger. Die Gerichtsentscheidung entlaste die Steuerzahler, zeigte sich der AfD-Wahlrechtsexperte Albrecht Glaser zufrieden.