Ein unvergeßlicher Tag für die christliche Gemeinde Väike-Maarja im estnischen Kreis Lääne-Viru (deutsch West-Wierland) im Juni 2023. Denn da trafen vier Kirchenglocken aus Deutschland ein. Die etwas mehr als zwei Tonnen schweren Bronzeglocken wurden von Gemeindemitglied Ervin Pill gespendet.
„Wenn diese Glocken läuten, ist das eine Botschaft an die Menschen, daß noch Zeit für Gnade ist“, sagte Ervin Pill, der der Gemeinde Väike-Maarja, deren Mitglied er ist, 22.000 Euro für den Kauf der Glocken spendete und sich damit einen Herzenswunsch erfüllte. „Gott hat geholfen. Er hat mein Haus niedergebrannt. Ich habe das Geld von der Versicherung bekommen und die Immobilie verkauft“, betonte Pill gegenüber der christlichen Monatszeitung Kuulutaja in Estland, als die gut zwei Tonnen schweren Glocken mit ihrem Zubehör und dem stählernen Glockenstuhl vor der Kirche abgeladen wurden.
In der Budapester Basilika klingen ausgemusterte deutsche Glocken
Tauno Toompuu, der Pfarrer der Väike-Maarja-Gemeinde, unterstrich, daß die vorhandenen Kirchenglocken nicht mehr funktioniert hätten. Der Wunsch der Gemeinde sei es gewesen, daß die Glocken digital moderner klingen sollten. Mit den alten Glocken sei das nicht möglich gewesen. Toompuu zeigte sich dankbar für das schöne Geschenk: „Sie läuten nicht heute und morgen, sondern werden hundert oder zweihundert Jahre halten und immer wieder läuten.“
Die Bronzeglocken wurden 1969 gegossen und stammen aus einer entwidmeten Kirche in der Gemeinde Bräunlingen in Süddeutschland. Vermittelt wurden sie von der Glockenbörse. „Hier werden sie die Menschen bald wieder zum Gottesdienst rufen. Wir freuen uns!“
Dank der Glockenbörse erklingt nun in der Basilika von Esztergom in Ungarn das Geläut der Kathedrale Unserer Lieben Frau und des heiligen Adalbert nach langer Zeit wieder vollständig. Im Ersten Weltkrieg seien nach Angaben der ungarischen Wochenzeitung Vasárnap vier der sechs Metallglocken für Kriegszwecke beschlagnahmt worden: die Glocken St. Adalbert, St. Stephan, St. Joseph und St. Imre. Im Turm der Basilika befanden sich in den vergangenen Jahrzehnten nur die größte und die kleinste Glocke: die „Totenglocke“ (280 Kilogramm, gegossen von András Schaudt 1853 in Buda) und die Glocke der Himmelfahrt (5.467 Kilogramm, gegossen von Ignác Hilzer 1855 in Wien). Letztere zerbrach 1930 und wurde 1938 von László Szlezák neu gegossen (seither wiegt sie 5.827 Kilogramm). Die große Glocke, die den Namen „Große Dame der Ungarn“ trägt, erinnere damit auch an den Eucharistischen Weltkongreß 1938 in Budapest, so die Erzdiözese.
Zu den beiden vorhandenen beiden Glocken kamen im Sommer 2023 drei Exemplare einer aufgegebenen Kirche in Deutschland. Hinzu kam die neu gegossene 770 Kilogramm schwere Stephansglocke, die von der 1599 gegründeten Innsbrucker Glockengießerei Grassmayr, Österreichs ältestem handwerklichen Familienbetrieb, gefertigt wurde. Die drei deutschen Glocken wurden 1964 von Karl Czudnochowsky, aus Erding, einem Meister seines Fachs, gegossen. Die Glocken von Jesus (2.902 Kilogramm), Maria (1.670 Kilogramm) und Joseph (1.181 Kilogramm) passen laut Erzdiözese perfekt in das „Klangbild“ der Basilika.
Angesichts der mehr als 500 seit der Jahrtausendwende entweihten katholischen Kirchengebäude (katholisch.de) und ähnlichen Zahlen bei der evangelischen Kirche – die NRW-Landesinitiative StadtBauKultur geht davon aus, daß bis zu 30 Prozent der rund 6.000 Kirchengebäude in Nordrhein-Westfalen (die katholischen mit eingerechnet) auf Dauer leerstehen werden – kamen 2015 die beiden Campanologen (Glockensachverständigen) Sebastian Wamsiedler und Matthias Braun auf die Idee, für Glocken aus säkularisierten Kirchen eine neue Nutzungsstätte zu finden – die „Glockenbörse“ wurde gegründet. Bereits bevor sie sich kennenlernten, bewegte sie unabhängig voneinander die Frage, was in Zeiten schrumpfender Kirchengemeinden und der damit einhergehenden Schließung von Kirchengebäuden mit den übrig gebliebenen Glocken geschehen solle. Zumal das Einschmelzen der wertvollen Instrumente für sie keine Option war.
Die Lösung war, die gebrauchten Glocken an andere Kirchen im In- und Ausland zu vermitteln und so sowohl ihren Fortbestand zu sichern als auch Gemeinden zu ermöglichen, in Zeiten angespannter Finanzlage Glocken kostengünstig zu erwerben.
Der Markt ist nach wie vor groß. „Hin und wieder muß ein Geläut ausgetauscht werden, weil es zum Beispiel aus mangelhaftem Material hergestellt oder einfach klanglich nicht gut ist“, sagte Wamsiedler in einem Interview mit der Webseite
die.region.de. „Oder die Gemeinde möchte eine Lücke schließen, etwa wenn die Glocken zu Kriegszeiten eingeschmolzen und bisher nicht ersetzt wurden.“
Der größere Markt liege allerdings außerhalb von Deutschland. Gerade in Ost- und Ostmitteleuropa seien preiswerte gebrauchte Geläute äußerst gefragt. Aber auch nach Südeuropa, in die Beneluxstaaten und in den hohen Norden nach Finnland und Island haben die Experten von der Glockenbörse schon verkauft. Besonders spannend findet Wamsiedler die Vermittlung in afrikanische Länder wie Ghana und Tansania im Rahmen von Missionsprojekten.
„Der weltweite Handel mit Geläut läutet eine neue Ära ein“
„Während die Nachfrage nach Kirchenglocken in Europa zurückgegangen ist, hat sich Afrika zu einem wichtigen Markt für die Einfuhr von ausgemusterten Glocken auf den Kontinent entwickelt“, schreibt entsprechend das südafrikanische Handelsmagazin Freight News und verweist dabei auf die jahrhundertealte italienische Gießerei, Campagne Marinelli, die Glocken an einigen der berühmtesten Orte Italiens, sogar im Schiefen Turm von Pisa und auf dem Petersplatz im Vatikan geschaffen hatte.
Doch heutzutage werde die schwindende Nachfrage nach Marinelli-Glocken in der Heimat als „Ausdruck des Niedergangs des Christentums in Westeuropa – dem einstigen Kernland des Glaubens – gesehen“, so das Fachblatt. Statt in der Nähe ein neues Zuhause zu finden, würden daher die Marinelli-Glocken dorthin verschifft, wo das Christentum noch wachse.
„Zur Zeit haben wir Aufträge aus Tansania, Nigeria und dem Kongo“, betonte Armando Marinelli gegenüber der Zeitung. Deren Resümee: „Der weltweite Handel mit Kirchenglocken läutet eine neue Ära für das Christentum ein – eine Ära, in der in Afrika das Herz schlägt. Im Moment sieht es so aus, als würde die Nachfrage nicht nachlassen.“
Der Glockenhandel ist, wie es im Neudeutsch heißt, eine Win-Win-Situation für beide Seiten. So hat etwa die evangelische Gustav-Adolf-Kirche in München-Ramersdorf Ostern 2022 gleich drei neue Glocken in Betrieb genommen. Die hochwertigen Bronzeglocken hatten zuvor seit 1966 in der Heilig-Geist-Kirche im Düsseldorfer Stadtteil Urdenbach geschlagen, so die Nachrichtenagentur Idea. Die Kirche war aber 2020 aufgegeben und entwidmet worden.
Die Lebenszeit der Glocken ist dem Bericht zufolge nahezu unbegrenzt. Bei den bisherigen Glocken in der 1936 eingeweihten Gustav-Adolf Kirche handelte es sich dagegen um Eisenhartguß-Glocken, die eine durchschnittliche Lebensdauer von etwa 80 Jahren hätten. Wegen Rostbefalls sei dieser Zeitpunkt nun erreicht. Zudem sei die Tonalität der gebrauchten Glocken deutlich besser als die der alten.
Nach Angaben des Vertrauensmannes im Kirchenvorstand, Norbert Pietsch, kosteten die gebrauchten Glocken 31.000 Euro. „Das entspricht dem reinen Materialwert von Bronze“, so Pietsch. Der Guß von drei neuen Bronzeglocken hätte hingegen rund 80.000 Euro gekostet. Ihre alten Glocken gibt die Kirchengemeinde aber nicht zum Schrott. Die kleinste wird im Kirchengarten ausgestellt, die anderen beiden wurden einem Gestüt vermacht.
Doch das Burgdorfer Unternehmen Glockenbörse handelt mehrb und mehr international. So zum Beispiel bei der jetzt beginnenden Sanierung der Inninger Pfarrkirche St. Johannes Baptist. Das Gotteshaus war 1767 gebaut worden. Bereits 2019 war von Sachverständigen festgestellt worden, daß die alten Glocken noch maximal zehn Jahre nutzbar seien. Das neue fünfstimmige Bronzegeläut aus Italien, das die alten Glocken ersetzt, hat der ehemalige Kirchenpfleger Franz Meier für 3.000 Euro einem Bericht des Münchner Merkurs zufolge bei der Glockenbörse im Internet entdeckt.
„Bein Transport werden die Glocken wie rohe Eier behandelt“
„Ein Schnäppchen“, bei dem er und Dekan Simon Rapp direkt zuschlugen. Spektakulär wird, so die Aussagen des Kirchenvorstands, der Austausch der Glocken. Sobald der 58 Meter hohe Turm saniert ist, was voraussichtlich 2025 der Fall sein wird, muß er in der Höhe geöffnet werden, damit das alte Geläut herausgehoben und das neue eingebaut werden kann. Ganz aktuell wurden jetzt drei Bronzeglocken aus der früheren evangelischen Heilig-Geist-Kirche in Hannover nach Estland transportiert. Ab Sommer erklingen sie in der evangelischen Marienkirche im estnischen Paistu. Beim Transport der drei Glocken mit einem Gesamtgewicht von 1.040 Kilogramm ist besondere Vorsicht geboten. „Glocken sehen zwar robust aus, müssen aber für einen Transport wie rohe Eier behandelt werden“, sagt Matthias Braun von der Glockenbörse.
Übrigens: Zum Verkauf stehen gerade eine gebrauchte Gußstahlglocke inklusive Klöppel und Schlagwerg, die 1922 in der Glockengießerei Bochumer Verein für Gußstahlfabrikation gegossen wurde. Oder eine Bronzeglocke inklusive Armaturen und Läutemaschine zur weiteren liturgischen Verwendung, die 1963 in der Glockengießerei Rincker gegossen wurde. Die Firma Rincker, mit Sitz in Sinn, einer Gemeinde im mittelhessischen Lahn-Dill-Kreis, existiert nach eigenen Angaben seit mindestens 1590 und ist damit die älteste in Familienbesitz gebliebene Glocken- und Kunstgießerei in Europa.