Was haben Sie denn da in dem Paket?“ – „Das ist ein MacGuffin.“ – „Was ist denn ein MacGuffin?“ – „Ein MacGuffin ist ein Gerät, mit dem man Löwen im schottischen Hochland fängt.“ – „Aber im schottischen Hochland gibt es doch gar keine Löwen!“ – „Naja, dann ist das auch kein MacGuffin.“
Mit diesem Witz charakterisierte Alfred Hitchcock das Prinzip, das er in Filmen wie „Der unsichtbare Dritte“ oder „Der Mann, der zuviel wußte“ zur Perfektion brachte. MacGuffin ist im Grunde nichts anderes als ein anderer Begriff für heiße Luft und veranschaulicht, daß es im Spannungskino nicht darauf ankommt, wofür oder wogegen der Held kämpft; wichtig ist nur, daß der Zuschauer es für ein ganz großes Ding hält. Jeder, der den Film kennt, erinnert sich noch an den Flugzeugangriff auf Cary Grant in „Der unsichtbare Dritte“, aber weshalb wird er noch mal genau verfolgt? Und wohinter sind in „Die 39 Stufen alle“ her?
Alfred Joseph Hitchcock kam am 13. August 1899 als Sohn eines Gemüsehändlers in London zur Welt. An Spielkameraden, sagte er einmal über seine Kindheit, könne er sich nicht erinnern. Der zu Korpulenz neigende Junge besuchte eine Jesuitenschule und später die School of Engineering and Navigation. Doch aus der Karriere in einem technischen Beruf wurde nichts. Der begabte junge Mann wurde Werbegrafiker, veröffentlichte in der Betriebszeitschrift seine ersten gruseligen Kurzgeschichten und landete schließlich 1920 beim Stummfilm. Er kümmerte sich beim britischen Ableger einer Hollywood-Produktionsfirma zunächst um die Requisite und die Zwischentitel, bevor ihm dann auch Drehbücher und Regieassistenzen anvertraut wurden.
Erstmals selbst Regie führte das durch sein überdurchschnittliches Verständnis für die Möglichkeiten des noch jungen Mediums auffallende Nachwuchstalent in dem mit deutscher Beteiligung produzierten Melodram „Irrgarten der Leidenschaft“ (1925). 1926 vermählte sich Hitchcock mit Alma Reville, die ebenfalls beim Film arbeitete. Es war der Beginn einer lebenslangen künstlerischen Symbiose. Alma und Alfred verstanden sich blind. An mehreren der von ihrem Gemahl verfilmten Drehbücher wirkte sie mit. Das einzige Kind, Tochter Patricia, wurde 1928 geboren.
Mit „Der Mieter“ (1926), einer von den Jack-the-Ripper-Morden inspirierten Geschichte, legte Hitchcock den ersten Film des Genres vor, das ihn berühmt machen sollte. Es folgten „The Ring“ (1927) und mit „Erpressung“ (1929) Hitchcocks erster Tonfilm. Er avancierte zu einem der angesagtesten britischen Regisseure seiner Zeit. Es entstanden die Filme „Sir John greift ein!“ (1930), die Ehekomödie „Endlich sind wir reich“ (1931), „Der Mann, der zuviel wußte“ (1934) mit dem bekannten deutschen Darsteller Peter Lorre, „Die 39 Stufen“ (1935), „Der Geheimagent“ (1936), „Sabotage“ (1936) und „Eine Dame verschwindet“ (1938).
Mit dem Kostümfilm „Riff-Piraten“ (1939) bewies er sich in einem ungewohnten Genre. „Sabotage“ offenbart Hitchcocks souveränen Umgang mit den Stilmitteln des Films und seine Meisterschaft im manipulativen Spiel mit Zuschauererwartungen. Er wagte einen schlimmen Tabubruch, wie er selbst später reumütig zugab, indem er einen kleinen Jungen in den Mittelpunkt rückte, der unwissend eine Bombe transportiert und dann mit ihr in die Luft fliegt. Daß der Zuschauer von der Gefahr weiß, der Junge aber nicht, ist das Paradebeispiel für Hitchcocks Spannungsprinzip.
Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ging der gefragte Filmemacher nach Hollywood, wurde später auch US-Staatsbürger. Mit der spannenden Daphne-du-Maurier-Adaption „Rebecca“ (1940), eher Melodram als Krimi, gelang ihm dort auf Anhieb ein Film, der heute als Klassiker gilt. „Rebecca“ gewann den Oscar, Hitchcock selbst, für den Regiepreis der Akademie nominiert, ging leer aus. Das sollte zeit seines Lebens auch so bleiben.
Es begann die Ära der großen Hollywood-Produktionen, die ihn schon zu Lebzeiten zur Legende machten: In „Verdacht“ (1941) spielt Cary Grant einen zwielichtigen Charmeur mit dunkler Vergangenheit. Es war der Film mit der berüchtigten Glühbirne im Milchglas, mit der der Regisseur auf das Unterbewußtsein des Publikums wirken wollte. Es soll denken, daß die von Joan Fontaine gespielte Ehefrau des mutmaßlichen Erbschleichers durch die Milch vergiftet werden soll, die Cary Grant ihr ans Bett bringt. Aber stimmt die Geschichte wirklich? Oder feilte das Genie, das sich in der TV-Serie „Alfred Hitchcock präsentiert“ (1959–1962) als Meister des Mysteriösen und Makaberen gekonnt selbst inszenierte und mit großem Vergnügen auch vor der Kamera agierte, nur an der eigenen Legende?
Auch seine kurzen Auftritte als Statist in vielen seiner Filme trugen zum Mythos Hitchcock bei. In den Siebzigern wurde er schließlich sogar bei Kindern Kult – durch die auch hierzulande populäre Kinderbuchreihe „Die drei ???“. Doch der Name Alfred Hitchcock auf den Buchdeckeln war nur ein PR-Trick. Selbst wird der Autor für „Die drei ???“ keine einzige Silbe geschrieben haben. Der Name Hitchcock war zur Marke geworden – und das Geld sprudelte.
Fast alles, was er nach dem Krieg ablieferte, schrieb Filmgeschichte. „Ich kämpfe um dich“ (1945) mit Gregory Peck und Ingrid Bergman, der Spionagekrimi „Berüchtigt“ (1946) mit Cary Grant und Ingrid Bergman sowie die beiden Gerichtsdramen Der Fall „Paradin“ (1947) und „Ich beichte“ (1952), in dem Montgomery Clift einen Priester spielt, der wegen des Beichtgeheimnisses einen Mörder deckt und dadurch selbst unter Mordverdacht gerät: alle diese Filme sind dank zahlloser Wiederholungen, auch im deutschen Fernsehen, unvergessen.
1948 gründete der Erfolgsverwöhnte die Produktionsfirma Transatlantic Pictures und drehte mit James Stewart „Cocktail für eine Leiche“ (1948), seinen ersten Farbfilm. Der Clou: Die Geschichte wirkt wie in einer einzigen Einstellung gedreht – ein Musterbeispiel für das Innovationsvermögen, das Hitchcock auszeichnet. „Die rote Lola“ (1950) mit Marlene Dietrich war ein eher blasses Werk, das der Meister des „Suspense“ sogleich vergessen ließ mit einem seiner besten Schwarzweißkrimis: „Der Fremde im Zug“ (1951). In der Verfilmung eines Romans von Patricia Highsmith wird ein perfider Mordplan ausgeheckt, bei dem zwei potentielle Mörder ihre Opfer tauschen.
Bei „Anruf Mord“ (1954) war der erste Hitchcock-Krimi mit Grace Kelly, der späteren Fürstin von Monaco. Sie wirkte auch in der charmanten Krimikomödie „Über den Dächern von Nizza“ (1955) als Filmpartnerin von Cary Grant mit und in „Das Fenster zum Hof“ (1954) mit Filmpartner James Stewart. Darin spielt die blonde Schönheitskönigin die Verlobte eines Fotografen, der glaubt beim Blick durchs Fenster Zeuge eines Mordes im Nachbarhaus geworden zu sein.
Mit der Burleske „Immer Ärger mit Harry“ (1956) über eine Leiche, die sich beharrlich dagegen sträubt, in der Versenkung zu verschwinden, versuchte der liebevoll Hitch Genannte sich erneut im komischen Fach, blieb dabei aber seinem Hang zum Makaberen treu. „Der Mann, der zuviel wußte“ (1956), erneut mit James Stewart in der Hauptrolle, war die wesentlich aufwendiger und in Farbe gedrehte US-Version des gleichnamigen Agentenkrimis von 1934. Und auch in „Vertigo“ (1958) war Stewart das Zugpferd. Die mit filmischen Gestaltungsmitteln visualisierten Schwindelgefühle des Helden, der von einem falschen Freund für ein Mordkomplott mißbraucht wird, machen den Film zu einem raffinierten Mix aus Verschwörungs- und Psychokrimi. Er gleicht darin dem in der Bildgestaltung ebenfalls stark suggestiv arbeitenden Krimi „Marnie“ (1964) mit dem frischgebackenen James-Bond-Star Sean Connery.
Die beide Filme belegen eindrucksvoll, daß Hitch hinsichtlich filmischer Gestaltungsmöglichkeiten und neuer gesellschaftlicher Trends stets am Puls der Zeit blieb, sich keinem Fortschritt verschloß. Nichts überließ er dem Zufall. „Glück mit Filmen?“ beschrieb der Perfektionist deswegen einmal seinen Erfolg. „Ich war rechtschaffen fleißig, das war mein Glück.“ In „Der unsichtbare Dritte“ (1959), einem ewigen Klassiker, findet sich nach des Maestros eigener Einschätzung alles, was seine US-Filmkarriere ausmachte. Der ausgesprochen turbulente, abwechslungsreiche und dabei auch noch witzige Spionage-Reißer läßt dem Zuschauer kaum Zeit zum Luftholen.
Ab den sechziger Jahren reduzierte der Mann mit dem Faible für kühle Blondinen seine Produktivität. Vorher strafte er mit „Psycho“ (1960) allerdings alle Lügen, die von ihm nach zuvor eher mäßigem Publikumszuspruch keine großen Sprünge mehr erwarteten. Hitchcock mußte für seinen Thriller, der ihm gerade wegen seiner Tabubrüche am Herzen lag, mit der immer noch strengen Zensurbehörde kämpfen. Wo andere eine Schere im Kopf hatten, hatte er lieber ein Messer in der Hand. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Der gegen den Trend in Schwarzweiß gedrehte Gruselschocker mit Anthony Perkins in der Rolle des Psychopathen Norman Bates hinterließ Wirkung. Vor allem infolge des berühmten Messermordes unter der Dusche, einer Szene, für die der Meister des Schreckens auf phänomenale Weise die Montagetechnik zur Spannungsmaximierung nutzte. „Psycho“ wurde zu dem Horror-Klassiker schlechthin und prägte ganze Generationen von Filmschaffenden.
Dasselbe gilt für „Die Vögel“ (1963) über eine Kleinstadt, die in die Klauen gewaltiger Scharen wild gewordener Möwen und Krähen gerät, die Tippi Hedrens Frisur nachhaltig zerzausten und Rod Taylor jede Menge Mut abverlangten.
Weniger für Furore sorgten die beiden für die Jahre des Kalten Krieges typischen Spionagekrimis, die auf das Federviech-Spektakel folgten: die in Deutschland spielende Ost-West-Geschichte „Der zerrissene Vorhang“ (1966) mit Paul Newman und Hansjörg Felmy und der Kuba-Krimi „Topas“ (1969) mit Michel Piccoli und Karin Dor. Seine beiden letzten Filme, die englische Frauenmörder-Groteske „Frenzy“ (1972) und die Krimisatire „Familiengrab“ (1976), die beide mit ihrem starken Hang zur Ironisierung auch als Parodien des Meisters auf seine eigene Filmkunst verstanden werden können, zeigen einen Hitch, der unter dem Einfluß der Achtundsechziger offener als von ihm gewohnt mit dem Thema Sex umging. Die späteren Enthüllungen Tippi Hedrens (veröffentlicht in „Die dunkle Seite des Genies“, 1983) über Zudringlichkeiten des Regisseurs bei den Dreharbeiten zu „Marnie“ lassen ihn als besessenen Triebtäter mit Blondinen-Tick erscheinen. Nur die Gnade der frühen Geburt verhinderte, daß der Londoner in Hollywood zum Abreaktionsobjekt einer hysterischen #Metoo-Kampagne werden konnte, wie sie den Künstler heute wahrscheinlich zermalmt hätte. Tatsächlich ist bis heute umstritten, wie sehr Hedrens psychische Fragilität zu dem Zerwürfnis mit ihrem Regisseur beitrug.
In den siebziger Jahren lähmten zwei Schlaganfälle seiner Frau Alma und eigene gesundheitliche Probleme den Altmeister. Am 29. April 1980 erlag er in seiner Wahlheimat Los Angeles einem Nierenversagen; seine Ehefrau überlebte ihn noch zwei Jahre. Der 54. Film „The Short Night“, bei dem die Norwegerin Liv Ullmann eine Hauptrolle spielen sollte, konnte nicht mehr realisiert werden.
In „Hitchcock“ (2012) wurde der Regie-Titan selbst zur Filmfigur. Ihn spielte Anthony Hopkins. Die Leinwand-Hommage von Sacha Gervasi befaßt sich mit der Entstehung von „Psycho“ und wirft einen ironischen Blick auf dessen Urheber: Gervasi zeigt Hitchcock bei der Premiere des Schockers in einem Nebenraum des Kinosaals. Hier ahmt er zur schrillen Musik des Horrorstreifens die Messerstiche aus der legendär gewordenen Duschszene, in der Janet Leigh in ihrer Filmrolle von einem irren Mörder erstochen wird, mit sadistischem Vergnügen nach, während nebenan die Zuschauer entsetzt kreischen. Eine einmalige Szene, die den unsterblichen Filmemacher womöglich besser charakterisiert als alle Biographien.
Foto: Regisseur Alfred Hitchcock (r.) mit dem Schauspieler James Stewart bei Dreharbeiten zu dem Film „Der Mann, der zu viel wußte“ (1965): Meister darin, Spannung zu erzeugen
Alfred Hitchcock Collection:18 Filme (Bluy-ray), Universal Pictures Germany 2022,57,99 Euro