In einer Zeit, in der das Netz angeblich alles für jeden bereithält, gibt es doch Lücken des Angebots. Das gilt zum Beispiel für die ZDF-Serie „Dokumente deutschen Daseins“, die zwischen 1977 und 1979 ausgestrahlt wurde. Deren Darstellung begann mit den Bauernkriegen und endete mit Teilung und Wiederaufbau. Produziert hatte sie Wolfgang Venohr, dem es nicht nur gelungen war, Überreste der Vergangenheit mit Spielszenen geschickt zu kombinieren, sondern dem Ganzen auch einen besonderen Reiz dadurch zu verleihen, daß nach jeder Sendung der Journalist Sebastian Haffner und der Historiker Hellmut Diwald das Gesehene diskutierten.
Wer mit den Namen sonst nichts verband, hätte ersteren für den Konservativen gehalten – klassischer Dreiteiler, weißes Hemd, einfarbige Krawatte, das spärliche Haar ordentlich zurückgekämmt – und letzteren für den Modernen – Anzug immerhin, aber manchmal Cord, das Hemd kariert, die Krawatte großflächig gemustert, Haare im modischen Schnitt, halblang über den Ohren. Die Kontroversen zwischen Haffner und Diwald wurden in höflichem Ton ausgetragen, aber es ging durchaus um verschiedene Standpunkte, wobei im Fall Diwalds deutlich wurde, daß ihm mehr an der deutschen Sache lag als Haffner, der sich im Zweifel auf die „realpolitische“ Anerkennung der Tatsachen bezog.
Anders als Haffner, der in der Nachkriegszeit eine bemerkenswerte journalistische Karriere durchlaufen hatte, war Diwald über die Grenzen seines Faches bis dahin kaum bekannt. Am 13. August 1924 im südmährischen Schattau geboren, stammte er aus einer „Mischehe“ zwischen einem österreichischen Vater und einer tschechischen Mutter. 1938 übersiedelte die Familie nach Nürnberg, 1942 wurde Diwald eingezogen und diente an der Westfront, 1944 legte er ein Notabitur ab.
Nach dem Zusammenbruch kam Diwald nach Süddeutschland, absolvierte zuerst ein Studium des Maschinenbaus, das er 1947 in Nürnberg abschloß, wechselte dann aber an die Universitäten Hamburg und Erlangen, um Philosophie, Germanistik und Geschichte zu hören. In Erlangen zählte er zum Umfeld des konservativen Historikers Hans-Joachim Schoeps, bei dem er 1952 mit einer Arbeit über den „Geschichtsrealismus“ des 19. Jahrhunderts promoviert wurde. Sechs Jahre später folgte die Habilitation über den Philosophen Wilhelm Dilthey, 1965 übernahm Diwald in Erlangen einen Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte.
Sein Buch über die Deutschen löste eine Hexenjagd aus
Nachdem sich Diwald bis dahin vor allem mit der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts befaßt hatte, konzentrierte er nun seine Aufmerksamkeit auf den Übergang vom Mittelalter zur Moderne. 1969 erschien eine Biographie Wallensteins, 1975 der Einleitungsband zur „Propyläen Geschichte Europas“, der die Renaissance und das Zeitalter der Reformation behandelte. Im allgemeinen wurden diese Arbeiten von den Kollegen wohlwollend aufgenommen. Jedenfalls gab es keine Zweifel an Diwalds Qualifikation. Das änderte sich radikal, nachdem er 1978 bei Propyläen seine „Geschichte der Deutschen“ vorgelegt hatte. Das Erscheinen löste eine wahre Hexenjagd aus, die damit endete, daß sich der Verlag von seinem eigenen Autor distanzierte und Diwald unter Historikern in Zukunft als bête noire galt, als personifiziertes Ärgernis.
Man hat ihm zwar auch vorgehalten, daß seine „gegenchronologische“ – also von der Gegenwart in die Vergangenheit zurückgehende – Darstellung zu große methodische Probleme aufwerfe und immer wieder skandalisiert, daß er Zweifel an der üblichen Deutung des Judenmordes durch das NS-Regime erkennen ließ, aber im Kern handelte es sich doch darum, daß die tonangebenden Kreise Diwalds Ausgangspunkt für indiskutabel hielten: daß nämlich die „Nationalverstümmelung“ der Deutschen in einem inneren Zusammenhang mit dem manipulativen Geschichtsbild stehe, das ihnen nach 1945 oktroyiert wurde und das nur zu erklären sei als Ergebnis „der jahrelangen Umerziehung, der inneren Umpolung des deutschen Volkes durch die Sieger des Zweiten Weltkriegs“. Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie nannte Diwald später einen „revisionistischen Historiker der ersten Stunde“.
Im Zuge der Widervereinigung fehlte ihm eine Bestandsaufnahme
Tatsächlich trat Diwald an dieser Stelle offen mit seiner Agenda hervor, die er in früheren Publikationen – „Die Anerkennung. Bericht zur Klage der Nation“ (1970) und „Ernst Moritz Arndt. Das Entstehen des deutschen Nationalbewußtseins“ (1970) – nur umrissen hatte, wenn er verlangte, daß die Grundlage für die Wiederherstellung der Deutschen als Nation die Wiederherstellung ihres Geschichtsbewußtseins sein müsse. Sieht man von den beiden Bänden ab, die Diwald nach der „Geschichte der Deutschen“ zur Entwicklung der großen Seemächte geschrieben hat, wird man feststellen, daß alle seine weiteren Veröffentlichungen dem Ziel dienten, für dieses Projekt Vorarbeit zu leisten. Das gilt für seine Biographien Luthers und Heinrichs I., aber auch für sein Bemühen, ein erneuertes historisches Verständnis nationalpädagogisch zu begründen.
Als Nationalpädagoge im Sinne von Männern wie Arndt, Fichte oder Friedrich Schleiermacher hat sich Diwald wohl selbst verstanden. Zur praktischen Politik hielt er – abgesehen von einem Zwischenspiel im 1983 gegründeten „Deutschlandrat“ der Republikaner, dem neben Franz Schönhuber unter anderem auch Armin Mohler, Robert Hepp, und Bernard Willms angehörten – Distanz. Das hatte fraglos auch damit zu tun, daß er wußte, wo der Schwerpunkt seiner Fähigkeiten lag. „Diwald schreibt zu gut – leider“, ließ einer meiner Professoren gelegentlich fallen, den Neid nur schwer verbergend.
Tatsächlich haben schriftstellerisches Können und Lebendigkeit der Schilderungen den Absatz der Bücher Diwalds trotz der Verfemung garantiert und ihm weiter den Zugang zu großen Verlagen ermöglicht; seine Zeitungsbeiträge erschienen kontinuierlich in der Tageszeitung Die Welt. Aber der Publikumserfolg und die Verehrung, die er in konservativen Kreisen genoß, änderten nichts daran, daß ausgerechnet der Mauerfall und dann die Wiedervereinigung manche seiner Hoffnungen zunichte machte. Diwald war enttäuscht, daß die Politische Klasse so schnell wie möglich zum Tagesgeschäft zurückkehrte, sich das Volk mit dem formalen Zusammenschluß der Bundesrepublik und der DDR zufriedengab und niemand eine Bestandsaufnahme dessen in Angriff nahm, was jetzt als geschichtliche Aufgabe vor den Deutschen lag. Um die zu erkennen, davon war Diwald überzeugt, mußte der Blick in die Vergangenheit gerichtet werden. Nicht um die zu bewältigen oder Nostalgien zu beschwören, sondern um für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet zu sein.
Die Energie, mit der sich Hellmut Diwald in seiner letzten Lebensphase dieser Aufgabe widmete, fand wenig Anerkennung. Es blieb bei Herabsetzung und Verfemung in der Wissenschaft wie den etablierten Medien, die selbstverständlich kein Interesse daran hatten, sich mit ihrem eigenen Versagen zu beschäftigen. Als er nach schwerer Krankheit am 26. Mai 1993 in Würzburg starb, hat man ihm in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sogar noch per Nachruf „ins Grab [ge]spuckt“ (Karl H. Metz). Gustav Seibt raunte damals, daß bei Diwald ein „antiwestlicher Impuls“ spürbar sei. Er fürchtete, daß den der „noch nicht verwestlichte Osten Deutschlands“ aufnehmen könnte, um so den Nährboden für eine „antirationale, undemokratische Ideologie“ zu schaffen, die angesichts des Mangels an „humanitätssichernde[r] Tradition“ in Deutschland die denkbar übelsten Folgen haben werde.
Man sollte diese Einlassungen – wie die Tatsache, daß ihnen nur in Leserbriefen widersprochen werden konnte – gelegentlich vergleichen mit der Offenheit der Debatte, die in der eingangs erwähnten Fernsehreihe gepflegt wurde. So ließe sich auch besser verstehen, warum die geistige Lage des Landes bis heute ist, wie sie ist, und auch, warum die Aktualität von Diwalds Generalthese, „daß es ohne Geschichtsbewußtsein weder eine soziokulturelle noch politische Selbstbehauptung gibt“, nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat.
Foto: Hellmut Diwald (r.) und Sebastian Haffner im Gespräch in der ZDF-Sendereihe „Dokumente deutschen Daseins“: Die zwischen 1977 und 1979 ausgestrahlte elfteilige Serie zur deutschen Nationalgeschichte wurde von Wolfgang Venohr produziert