Lesen ist Reisen auf den Flügeln der Phantasie. Also habe ich mich auf den Weg gemacht und bin in diesem Sommerurlaub mal in den hohen Norden gereist, genauer: nach Kråkenes auf der Insel Vågsøy vor der Westküste Norwegens. Und zwar zusammen mit dem Autor Thomas Bickhardt und dessen inspirierendem Buch „Windstärke 15. Wo die Freiheit wohnt – mein Leben im Leuchtturm am Ende der Welt“, erschienen in diesem Frühjahr im Münchner Ludwig-Verlag. Der ausgebildete Seemann und studierte Psychologe erfüllte sich 1994, damals war er einunddreißig, seinen Lebenstraum, pachtete einen Leuchtturm in Norwegen und zog in seine Wahlheimat. „Zum Wachsen muß man fortgehen“, schreibt er an einer Stelle in seinem Buch. Der Leuchtturm, Kråkenes fyr, steht auf einer steilen, sturmumtosten Klippe rund 40 Meter über dem Meeresspiegel. Dort ist Bickhardt die ersten Jahre ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Die Natur lehrt ihn Respekt und Demut. „Im Gegensatz zu anderen Landstrichen, die der Mensch geprägt, gestaltet und nach seinen Vorstellungen verändert hat, ist es hier anscheinend anders. Hier formt die Natur den Menschen, gräbt tiefe Falten in Gesichter, formt Persönlichkeiten und schleift mit Wind und Salzwasser die Seele des Menschen, bis er sich nahtlos in die schroffe Landschaft einpaßt.“ Bickhardt erzählt von diesem Abenteuer, das annähernd dreißig Jahre währte (2022 kehrte er nach Deutschland zurück), von seinem Alltag, den Glücksmomenten ebenso wie von den Enttäuschungen, ehrlich und unterhaltsam.
Der Leuchtturm Ar Men mitten im Atlantik vor der Küste der Bretagne wird „Hölle der Höllen“ genannt.
„Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen.“ (Aristoteles zugeschrieben)
Apropos Leuchtturm: Bickhardts ist gar kein herkömmlicher, wie man ihn sich vorstellt, sondern „ein ganz normales zweistöckiges Gebäude, in dem ein paar irre hell leuchtende Glühbirnen den Schiffen auf See verschiedenfarbige Sektoren anzeigen“. Nicht annähernd zu vergleichen also mit dem Leuchtturm Ar Men in der Bretagne, erbaut zwischen 1867 und 1881. Er steht vor der Küste mitten im Atlantik, rund 24 Kilometer vom Festland entfernt. Sein bretonischer Name bedeutet übersetzt einfach „der Felsen“, unter Seeleuten wird er jedoch „Hölle der Höllen“ genannt. Dort lebte Anfang der 1960er Jahre der Schriftsteller Jean-Pierre Abraham als Leuchtturmwärter. Seine Aufzeichnungen darüber umfassen die Monate November bis Mai eines undatierten Jahres. Sie erschienen in Frankreich 1967 und in deutscher Übersetzung erstmals 2010. Nun liegt eine Neuausgabe vor, ergänzt um ein kundiges Nachwort der Übersetzerin Ingeborg Waldinger, die den Autor vorstellt und sein Buch deutet. Lesenswert!
Jean-Pierre Abraham: Der Leuchtturm. Mit einem Nachwort der Übersetzerin Ingeborg Waldinger. Jung und Jung Verlag, Salzburg 2024, gebunden,192 Seiten, 22 Euro