© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/24 / 09. August 2024

Miko, mon amour
Kino: Mit dem bewegenden Liebesdrama „Touch“ versetzt der Isländer Baltasar Kormákur ins London der „Sgt. Pepper“-Ära
Dietmar Mehrens

Wenn die Tochter ständig anruft und darauf besteht, auf keinen Fall den Termin für die nächste Magnetresonanztomographie (MRT) zu versäumen, dann spricht einiges dafür, daß die besten Tage hinter einem liegen, daß Vergeßlichkeit auf besorgniserregende Weise zu- und das allgemeine Wohlbefinden umgekehrt proportional dazu abgenommen hat. In dieser wenig erbaulichen Lebenslage befindet sich der isländische Mittsiebziger Kristófer (Egill Ólafsson). Da aber Defätismus seine Sache nicht ist, entschließt er sich spontan zur Rückkehr in die Stadt, in die er vor 51 Jahren zum Studium aufbrach, um dort dann seine besten Jahre zu verbringen. 

Zeitsprung ins London der „Sgt. Pepper“-Beatles: Als Student in die englische Hauptstadt gekommen, sympathisiert Kristófer (jetzt gespielt von Pálmi Kormákur) mit dem Anarcho-Kommunismus, der die westeuropäischen Universitäten Ende der Sechziger in Tollhäuser verwandelte. Der junge Isländer fühlt sich von der Doppelmoral der Bewegung jedoch rasch abgestoßen. Eine Revolution, die in einem Fünf-Sterne-Hotel beginne, könne man nicht sonderlich ernst nehmen, spottet er über das legendäre „Bed-in“ von John Lennon und Yoko Ono 1969 im Amsterdamer Hilton. Er schmeißt sein Studium hin und nimmt statt dessen, einer spontanen Eingebung folgend, eine Stelle als Aushilfskraft in einem japanischen Restaurant an.

Leidenschaft für Fernost-West-Verbindungen 

Nicht ganz unschuldig an diesem überraschenden Paradigmenwechsel ist die aparte Miko (Kōki), die Tochter des Inhabers. Allerdings hat die liebenswerte Japanerin schon einen Freund. Schließlich hat Kristófer sie durch seine pseudo-akademische John-Lennon-Brille aber so oft mit begehrlichen Blicken angeschaut, daß sie seinem Liebeswerben nachgibt. Nicht ganz unschuldig daran, daß aus den beiden ein Paar wird, ist natürlich auch, daß der abgehalfterte Student und Gastronomie-Lehrling die junge Dame im Restaurant ihres Vaters mit exklusiv für sie zubereitetem Essen verwöhnt. Liebe geht bekanntlich durch den Magen. Ihre Beziehung versuchen sie geheimzuhalten, vor Kristófers skeptischer Zimmerwirtin wie auch vor Mikos Vater. Als Kristófer erfährt, daß Mikos Familie nicht aus Tokio, sondern aus Hiroshima stammt, ist das der erste Vorbote eines schrecklichen Geheimnisses, das schließlich dazu führt, daß Miko so jäh aus dem Leben ihres Liebhabers wieder verschwindet, wie sie hineingekommen ist.

Über ein halbes Jahrhundert später plagt den in Würde Ergrauten, der schließlich in Island eine andere Frau geheiratet, diese aber wieder verloren hat, die Sehnsucht, Miko wiederzufinden. Als kranker Mann weiß er, daß die Zeit gegen ihn spielt. Ausgerechnet 2020, als sich weltweit die Covid-19-Epidemie ausbreitet, faßt Kristófer gegen den Rat seiner Tochter Sonja den Entschluß, die offene Baustelle von einst endlich zu schließen und zum Abschluß zu bringen, was damals in London so hoffnungsvoll begann.

„Touch“ ist die Filmadaption des isländischen Bucherfolgs „Snerting“ von Ólafur Jóhann Ólafsson, 2021 mit dem Literaturpreis des Buchhandels für den besten isländischen Roman des Jahres ausgezeichnet. Gemeinsam mit Regisseur Baltasar Kormákur verfaßte der Autor auch das Drehbuch. Der vielfach preisgekrönte Filmemacher ist Kinozuschauern bekannt durch das Bergsteigerdrama „Everest“ (2015) sowie durch die ZDF-Serie „Trapped – Gefangen in Island“. Zuletzt kam von ihm das packende Großwilddrama „Beast – Jäger ohne Gnade“ (2022) ins Kino.

Jedoch ist „Touch“ von völlig anderem Kaliber als der Actionkracher. Die Geschichte erinnert in vielem an den Überraschungserfolg „Past Lives – In einem anderen Leben“ (JF 33/23) über Liebe, Trennung und Wiedervereinigung. Mit dem Oscar-Kandidaten von Celine Song teilt Kormákurs „Touch“ die Leidenschaft für Fernost-West-Verbindungen, einen melancholischen Grundton und eine unaufgeregte Erzählweise, bei der Figuren wichtiger sind als vordergründige Effekte. Gekonnt versetzt der Regisseur aus Reykjavík in seinen Rückblenden (die den Hauptteil des Films ausmachen) zurück ins London der wilden Achtundsechziger und bildet die Stimmung der Zeit sehr gut nach. Die Verbindung der Geschichte mit dem verheerenden Atombombeneinsatz in Hiroshima verleiht ihr zusätzliche Tiefe und Brisanz und ist natürlich eine Reverenz an den Klassiker „Hiroshima, mon amour“ (1959) von Alain Resnais.

Damit hat die Romanverfilmung des Isländers alle Zutaten, um im akademisch gebildeten oder sich bildenden Milieu eine ähnliche Karriere hinzulegen wie das bewegende Liebesdrama seiner Kollegin Celine Song.


Foto: Miko (Kōki) bandelt mit dem jungen Kristófer (Pálmi Kormákur) an: Liebe geht bekanntlich durch den Magen, Kinostart ist am 8. August 2024