© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/24 / 09. August 2024

Das intellektuelle Erbe Wilhelm Röpkes
Was ist liberale Kulturkritik?
Gerd Habermann

In diesem Jahr wäre der politische Ökonom Wilhelm Röpke 125 Jahre alt geworden. Leider starb er schon 1966. Er war einer der wortmächtigsten Streiter für liberalkonservative Positionen im deutschen Neoliberalismus der Nachkriegszeit. Von seinem Kampf gegen den aufkommenden Nationalsozialismus über seine Emigration nach Istanbul und dann in die Schweiz bis zu seinem Tod stand er ständig „in der Brandung“ gegen kollektivistische und links-„progressive“ Zeitströmungen.

Gesellschaftspolitisch war er nicht nur Ökonom, sondern vor allem ein konservativer Soziologe, der die entscheidenden Faktoren „jenseits von Angebot und Nachfrage“ – wie eines seiner bekanntesten Bücher heißt – eindrucksvoll zur Sprache brachte. Er war einer der wichtigsten Inspiratoren Ludwig Erhards, Mitgründer der Mont Pelerin Society und Freund des gleichaltrigen Friedrich August von Hayek. Bei alldem war er auch ein liberaler „Kulturkritiker“ ersten Ranges.

Kulturkritik begleitet die Geschichte fast von Anfang an. Diogenes ist in Europa der Vertreter dieser Disziplin, Platons Schilderung der athenischen Demokratie, Aristoteles’ Verachtung der „Pöbelherrschaft“, die Stoiker, Seneca, Tacitus und die scharfe grundsätzliche Verwerfung der antiken Kultur durch die christliche Bewegung folgten ihm. In neuerer Zeit stehen Michel de Montaigne und Jean-Jacques Rousseau am Anfang, später kamen Friedrich Schiller, Hölderlin und die gesamte romantische Bewegung, Friedrich Nietzsche, José Ortega y Gasset, Karl Jaspers und viele andere.

Natürlich darf die alte sozialistische Kritik an „Entfremdung“ und „Verdinglichung“ nicht vergessen werden – oder die „Konservative Revolution“ der zwanziger Jahre. Die Frankfurter Schule, namentlich Adorno, sowie die Ökologiebewegung stehen für eine Kritik der modernen Kultur mit industrieller Technik, Massenproduktion, atomistisch-vereinsamten Individuen, Arbeitsteilung und einer „konsumistischen“ Lebensweise. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist Kulturkritik eine Gewinn-und-Verlust-Rechnung, ein Blick auf das, was durch die kapitalistische Moderne zerstört wurde.

Man kann eine „rechte“ und „linke“ Kulturkritik unterscheiden, die sich in zentralen Punkten berühren. Auch die deutschen Neoliberalen und unter ihnen namentlich Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow waren ökonomische und soziologische Kulturkritiker. Friedrich August von Hayek hat kritisch über den „Weg zur Knechtschaft“ geschrieben – nicht nur ökonomisch. Nach dem Zusammenbruch der kapitalistischen Marktwirtschaft und des Rechtsstaates in Deutschland und anderen europäischen Ländern und der Heraufkunft eines linken und rechten Totalitarismus stellte sich ihnen die Frage: Wie sieht eine menschengemäße, in diesem Sinn „natürliche Ordnung“ – ein alter Begriff der Stoa, den auch Adam Smith übernommen hat – aus?

Unter welchen „soziobiologischen“ und geistig-moralischen Voraussetzungen gedeiht der Mensch im Sinne eines physischen Gleichgewichts, der Lebensfreude, des Gefühls vitaler Zufriedenheit am besten? Im Sinne einer „Integration“ – ein Lieblingsausdruck Rüstows – des Menschen in sich und seiner Umwelt, das heißt seiner Verwurzelung in Gemeinschaften, die ihm Halt geben und dem allgemein-menschlichen Bedürfnis „dazuzugehören“ entsprechen. Das Anliegen war also letztlich praktisch und nichts weniger als „wertfrei“. Man könnte Röpkes Hauptfrage auch so formulieren: Welchen Menschentypus bringen die verschiedenen Gesellschaftsordnungen hervor und wie ist der jeweilige Typus im Sinne liberal-bürgerlicher Zielsetzungen zu bewerten? So grundsätzlich konnten nur Menschen fragen, die den Untergang der alten Ordnungen miterlebt hatten.

Sie waren keine müden Kulturpessimisten, sondern entwarfen ein freundliches Gegenbild der „Civitas humana“ und warben dafür in ihren Publikationen, wortgewandt, leidenschaftlich und manchmal auch zornig.

Zuletzt hatten die großen Autoren des 18. Jahrhunderts, besonders die schottischen Philosophen und Montesquieu, derart umfassend angesetzt, dann im 19. Jahrhundert vor allem Benjamin Constant und Alexis de Tocqueville. Zeitgenössischen Ökonomen liegen diese Fragen meist fern. Sie trauen sich kaum an ein persönliches Werturteil heran, allenfalls an die Frage der Ziel-Mittel-Adäquanz bei Hinnahme vorgegebener Werte. Oder sie verlieren sich in realitätsfernen Modellrechnungen. Manchmal erklären sie solche Fragen auch für unwissenschaftlich, gar für Poesie. Dabei sind sie nur Opfer ihrer eigenen Spezialisierung, die solche Fragen gar nicht mehr ins Blickfeld geraten läßt. Man findet Fragen dieser Art heute allenfalls noch bei einigen Ethologen wie Desmond Morris und Konrad Lorenz oder bei Psychotherapeuten, in deren Praxen sich die Opfer moderner Lebensweise ansammeln.

Sind all diese Fragen und die damit verbundene kritische Kulturdiagnose illiberal, gar illegitim, womöglich reaktionär? Dürfen Röpkesche Fragen nach der „Rangordnung der Werte“ als rein subjektiv nicht mehr gestellt werden? Ist das, was am täglichen Plebiszit des Marktes über Produkte und Leistungen – das heißt auch über Lebensstile und Werte – von den nachfragenden Konsumenten entschieden wird, jeder Kritik enthoben? Gibt es nicht auch einen Markt der Meinungen und Ideen, die miteinander im Wettbewerb stehen? Lohnt sich nicht auch eine Diskussion über Wertfragen, damit wir uns über die Tragweite unserer Werte klarwerden? Wilhelm Röpke versteht die Sozialwissenschaften und namentlich auch die Ökonomie als normative Wissenschaften in dem Sinne, daß die oberste Frage sein muß: Welches sind die Lebensbedingungen einer freien Ordnung? Diese Frage geht über Ökonomie im engeren Sinn hinaus. 

Entscheidend ist für die Legitimität dieser Fragen, daß keiner dieser Liberalen jemals vorgeschlagen hat, Ordnungen und Ideale nach Art des Konstruktivismus einer widerstrebenden Gesellschaft aufzuzwingen – ebendas ist es ja gerade, was von ihnen abgelehnt wird, nicht nur aus Gründen der Unmöglichkeit der Kalkulation im Sozialismus.

Legitim ist es jedoch zu fragen, was das Überleben von Markt und individueller Freiheit gefährdet. Offenbar erhalten sich diese Institutionen nämlich nicht aus ihrer ökonomischen Eigenlogik heraus, wie ihre ständige Bedrohung durch einen interessierten Interventionismus belegt. Röpke sagt zu Recht, daß die Gesellschaft die Summe von letzten Überzeugungen ist. Daher ist es für das Überleben einer „Civitas Humana“ nicht gleichgültig, wie diese aussehen. Kernprobleme sind für ihn der Bevölkerungszuwachs seit dem 19. Jahrhundert, die Konzentration desorientierter Menschenmassen in Riesenstädten sowie das Aufkommen von Großbetrieben und Bürokratien. Sein wichtigstes strukturelles Gegenmittel ist nicht die Abschaffung der Marktwirtschaft, sondern die Dezentralisation von Wirtschaft und Gesellschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip, auch „Dezentrismus“ genannt.

Es sind nach seiner Meinung vier vitale Bindungen, die der Mensch braucht: Gemeinschaft, Natur, Eigentum und Tradition. Daraus ergibt sich sein soziales Programm, für welches er mit einer leidenschaftlichen, oft geradezu hämmernden Sprache wirbt: „Wiederverwurzelung“ in Familie, Nachbarschaft und Verein, echter Föderalismus – wie in der von Röpke bewunderten Schweiz – und „milder Patriotismus“.

Der Wohlfahrtsstaat mit seiner egalitären Ethik und alles durchdringenden Bürokratie steht im Mittelpunkt seiner Polemik („komfortable Stallfütterung“). Er verstaatlicht den Menschen, drückt ihn zu einer „insektenhaften Existenz“ herab, macht ihn unfähig zur Eigenvorsorge, schwächt alles freie Engagement. Ein Hauptpunkt sind darum die Zurückdrängung des „Fiskalsozialismus“ und die Wiederherstellung echten Privateigentums. Dies war ja auch das soziale Programm seines Freundes Ludwig Erhard, der mit diesem Anliegen letztlich scheiterte.

Röpke erinnert sich an seine glückliche Kindheit in der Lüneburger Heide, in der Kleinstadt Schwarmstedt, wenn er das Bauerntum, Handwerk und traditionelle Gemeinschaftsbindungen zur idealen ökonomischen und sozialen Existenzform erklärt. Dies besonders sowie seine geistesaristokratische Idealisierung einer „nobilitas naturalis“, seine Kritik am Verlust echter Bildung, an einer auf Gegenwartskonsum zielenden Marktwirtschaft, an zeitgenössischer Architektur, Kunst und Philosophie, schließlich die Banalisierung des Sexus im Kommerz haben ihm den Ruf eines weltfremden Romantikers eingebracht.

Er antwortete darauf 1965 in einem Zeitungsartikel: „Es wäre echte ‘Romantik’ im Sinne des eindeutig Anachronistischen, die Rückkehr zu einem ‘Ständestaat’ mit seiner Statik, seinem echten korporativen Geist, seinen ‘gerechten’ Preisen und ‘gerechten’ Löhnen zu erträumen. Aber ist es ‘Romantik’, zum Widerstand gegen bestimmte Tendenzen unserer Zeit aufzurufen?“

Röpke nennt die Malaise der Städte, die „klotzigen Beton- und Glasmassen“, den entfesselten Straßenverkehr, „die Zerreißung der Wurzeln der Heimat, der Überlieferung und der Gemeinschaft“ und den Massenkonsum – zum Beispiel in Gestalt der Comics, die er gräulich fand. Ähnlich geht es ihm mit dem Fernsehen, der Massenpresse, der skrupellosen Reklame, dem Kult des Gemeinen, Gewöhnlichen und Absonderlichen, ja dem Kult des „gemeinen Mannes“ überhaupt.

Röpke zielt mit seiner Kritik nicht auf eine Negation der Marktwirtschaft ab, sondern nur auf die Wertentscheidungen, die in der Nachfrage zum Ausdruck kommen. Das Plebiszit der Konsumenten kann je nach ihren dominierenden Werturteilen so oder so ausfallen und lenkt damit die Produktion.

Hat sich die Welt in Deutschland und Europa seit dem frühen Tod Röpkes 1966 in Richtung seiner Ideale verändert? Die Bilanz fällt zwiespältig aus. Kulturkritik seiner Art – ohne seinen ökonomischen Tiefgang – dauert an. Etwa bei dem Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa oder dem Medientheoretiker Neil Postman, aber auch in den Analysen des liberalen Kommunitarismus. Auch E. F. Schumachers Botschaft „Small is beautiful“ wurde weithin gehört. So auch die Schriften der Umwelt- und Naturschutzbewegung. Zweifellos ist der Kult um das Auto und das Ideal einer autogerechten Stadt passé. Man baut Wohnsiedlungen nicht mehr nach Art von Le Corbusier als „Wohnmaschinen“. Massenhochhäuser im Plattenbaustil haben ihre Zeit gehabt.

Es gibt wunderbare Beispiele „menschengerechten“ Bauens, zum Beispiel in Kirchsteigfeld bei Potsdam. Die Umweltbewegung hat die Zerstörung der Natur aufgehalten und teils umgekehrt. Die meisten Flüsse bieten wieder Badevergnügen. Kraniche, Störche, Uhus, ja sogar Wölfe sind wiedergekehrt; historische Stadtbilder werden eisern bewahrt oder liebevoll restauriert, besonders im Osten Deutschlands. Das Berliner Schloß, die Frauenkirche in Dresden oder die Altstadt Frankfurts am Main sind wieder aufgebaut – eindrucksvolle Versuche zur Wiederverwurzelung in der Geschichte.

Gleichzeitig ist aber der Wohlfahrtsstaat weiter angewachsen. Die von Röpke und Hayek bekämpfte keynesianische Makroökonomik triumphiert. Der politische Zentralismus ist fortgeschritten. Eine zahme Föderalismusreform konnte ihn kaum aufhalten. Das Eigentum wird weiter eingeschnürt, die Währung steht auf europäischer Ebene vor einem möglichen Ruin mit unabsehbaren Folgen.

Überhaupt: Die Fehlentwicklung der EU zum Überstaat hätte Röpke kaum gefallen. Auch Erfindungen wie das Smartphone dürften in ihrem lebensbestimmenden Gebrauch kaum seinen Beifall gefunden haben, schon gar nicht mit Blick auf die sozialen Medien. Am bedrohlichsten scheinen aber die egalitäre Inklusionsideologie mit ihrem Meinungsterror und die sie begleitenden Einschränkungen der Vertragsfreiheit – ein nihilistischer, ja selbstzerstörerischer „Wokeismus“. Eine Welle, die nicht nur in Deutschland, aber hier besonders, triumphieren konnte – eine „Transformation“ ins Nichts.

Röpkes Fragen bleiben daher notwendig, seine Antworten in ihren Kernelementen – Dezentrismus, Subsidiarität, Eigentum – auch. Nicht jedes seiner Werturteile muß man teilen. Es entspricht den Grundsätzen des Liberalismus, seine Meinung aussprechen zu dürfen, nenne man sie liberal, konservativ oder – die Formel, die am ehesten für Röpke wie auch Hayek zutreffen dürfte – liberalkonservativ. Liberal ist der Rahmen, wertkonservativ die persönliche Position.

Kulturkritik in diesem Sinn ist gut. Sie zeigt die andere Seite der Medaille – die Verlustgeschichte – und erweitert so den persönlichen Horizont, verbreitert die Grundlagen des eigenen Urteils und warnt vor Fehlentwicklungen.




Die Marktwirtschaft kritisieren, ohne sie in Frage zu stellen: Wilhelm Röpkes Schriften arbeiten sich an den normativen Grundlagen des Kapitalismus ab, um ihn als Garanten der Freiheit in die Zukunft zu retten 



Dr. Gerd Habermann, Jahrgang 1945, Philosoph und Publizist. Studium in Frankfurt (Main), Wien und Konstanz – Promotion über Max Weber. Initiator der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft. Autor bei eigentümlich frei und dem Schweizer Monat.