© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/24 / 09. August 2024

Letzter baltischer Rittmeister
Literaturwissenschaft: Der Germanist Eckhard Lange hat eine bemerkenswerte Biographie des 1892 in Riga geborenen Schriftstellers Werner Bergengruen vorgelegt
Günter Scholdt

Seit Mitte Juni liegt eine ebenso verdienstvolle wie umfangreiche Biographie über den Dichter Werner Bergengruen vor. Sie stammt von Eckhard Lange, dem Präsidenten der Bergengruen-Gesellschaft, Nachlaßverwalter und Herausgeber der Jahresbände „Bergengrueniana“. Dieser exzellente Kenner der Materie widmet sich einem 72jährigen Leben, in dem immerhin 12 Romane, 5 Kinderbücher, 200 Novellen, 500 Gedichte und knapp 270 bislang entdeckte pragmatische Texte (Artikel, Reden, Vorworte etc.) verfaßt wurden. Dazu ansehnliche zwischen 1940 und 1963 entstandene Zeit- und Kulturreflexionen unter dem Titel „Compendium Bergengruenianum“. Die gehaltvolle Essay-Sammlung wurde leider nur fragmentarisch publiziert. Sie ruft nach einer Gesamtedition. 

Die Biographie dient der Wiedergutmachung einer philologischen Ungerechtigkeit, die diesen Klassiker der deutschen Literatur um die Mitte des 20. Jahrhunderts weithin vergessen ließ. Selbst Germanisten, falls dieser Zunft überhaupt noch Sinn für Peinliches verblieb, blamieren sich heute offenbar nicht mehr, wenn ihre Bergengruen-Kenntnis sich bestenfalls auf das vage-unfundierte Stichwort „Innere Emigration“ beschränkt. Dabei war er in den 1940ern bis 60ern im deutschsprachigen Kulturleben zweifellos eine Instanz: als glanzvoller Exponent traditioneller Lyrik, Meister der Novelle, Bestsellerautor selbst im Dritten Reich mit subversiven historischen Romanen, wie „Der Großtyrann und das Gericht“ oder „Am Himmel wie auf Erden“. Das Publikum liebte und las ihn millionenfach. Preise und Ehrungen blieben nicht aus. Die Säle zahlloser Lesungen des „Abiturdichters“ waren prall gefüllt. Dabei stand er meist quer zum Zeitgeist, als „letzter“ baltischer Rittmeister gemäß eigener Stilisierung seines gleichnamigen Erzählbandes von 1952, als unbeugsam-störrischer Nonkonformist, der seinen Hang zum „Altmodischen“ – wie Lange anmerkt – zum Teil auch etwas kultivierte. 

Dieses Lebensbild hat uns Lange nach einschlägigen Archivstudien in Marbach, München, Berlin und intensiver Auswertung umfangreicher Briefwechsel wie Berichte von Verwandten oder Freunden akribisch gezeichnet, wobei er sich wohltuend von der verbreiteten philologischen Geheimsprache und deren Imponiergehabe fernhielt. Erfrischend wirkt auch der persönliche Zugang zur Wertungsproblematik im Vorwort, in dem er sich nur scheinbar allgemeingültigen Qualitätskriterien verweigert.

Falsche Einstufung als Idylliker einer „Heilen Welt“

Zuweilen spürt man, daß einige Politprämissen Bergengruens – das lebenslange monarchische oder soldatische Faible, strikter Antisozialismus, Verständnis für Adenauers Pragmatismus, der kirchliche „Erzkonservatismus“ oder Folgen baltischer Sozialisierung (exemplarisch bei der Landeswehr) – Lange nicht ganz behagen. Doch, getragen von einer Grundsympathie, versteht er sich als Mittler zwischen heutigen und früheren Auffassungen. Explizit verteidigt er ihn vor der falschen Einstufung als Idylliker einer „Heilen Welt“, mit dem Exilanten wie Theodor Adorno oder „Kahlschlag“-Vertreter ihn als Stellvertreter der älteren Generation zu dekanonisieren trachteten. Auch der Streit zwischen inneren und äußeren Emigranten ist Lange erkennbar unbehaglich. Demgegenüber wünschte ich mir im Kontrast zum Zeitgeist sogar eine analytische Verschärfung der Debatte, die das Selbstgerechte mancher Exil-Urteile ähnlich gewichtet wie Verhärtungen der Daheimgebliebenen. Denn das nicht selten wenig Unschuldige, kulturpolitisch Absichtsvolle vieler Attacken wird meist verdrängt. 

Für Nutzer, die Bergengruen noch gar nicht kennen, hätte sich vielleicht ein weniger detailverliebter Ansatz empfohlen – arrangiert um ein Dutzend Themenschwerpunkte (von der baltischen Herkunft über die Rolle im Ersten Weltkrieg, den zwanziger Jahren und dem Dritten Reich bis zur bundesrepublikanischen Stellung als Antipode „engagierter“ Literatur). Zugunsten bereits belesener Bergengruen-Liebhaber hat Lange sich anders entschieden, verfährt strikt chronologisch und erschließt vor allem die Binnensicht der Autoren-Familie. Es fehlt nicht an kurzen Werk-Musterungen, wobei er gerade weniger bekannten Texten durch originelle Deutung einen neuen Zugang verschafft. Hinzu kommen politische oder poetologische Informationen. Darüber hinaus jedoch dominiert „Menschliches – Allzumenschliches“ durch etliche, teils heitere, teils bedrückende Anekdoten. 

Depressionen werden anschaulich, verstärkt durch rassische Verfolgung von Frau und Kindern wie die Bedrohung durch Schreibverbot, dazu Schreibhemmungen oder der lähmende Kummer über den früh verstorbenen Erstgeborenen. Aber auch Erhebendes kommt zur Sprache: Feste, Hausbau oder Heiraten, eine Hundertschaft von (Lese-)Reisen neben Verlagsquerelen und Geldsorgen. In Schriftstellerakademien oder Preiskomitees (zum Beispiel mit dem ungeliebten Gottfried Benn zusammen) entfaltet sich der Jahrmarkt der Eitelkeiten, zeigen sich Konkurrenzen und Abneigungen (etwa gegenüber Hans Friedrich Blunck, Ernst Wiechert, Hermann Hesse, Ina Seidel, teils Jochen Klepper) oder als Kontrast intensive Freundschaften mit Reinhold Schneider oder Horst Lange. 

Bergengruen offenbarte heute seltenen Humor und Selbstironie

Über Individuelles oder auch Skurriles hinaus veranschaulicht die minutiös rekonstruierte Vita zugleich Alltagsprobleme jener Epoche, die uns heute allzu oft klischeehaft oder politmoralisch verzerrt vor Augen steht. Wer kann sich noch vorstellen, welchen drückenden Nöten diese Menschen in den 1940ern vielfach ausgesetzt waren? Nahrung und Brennstoff mußten beschafft, Hungerszenarien, Verwaltungsrestriktionen, strangulierende Reisebeschränkungen etc. erduldet werden. Für Bergengruens Ehefrau kamen neben der Betreuung dreier Kinder noch ungeheure Pensen von abzuschreibenden Manuskripten hinzu. So gewinnt der hier ausgebreitete „tägliche Kram“ seine zusätzliche soziologische Dimension. 

Zuletzt sei die Lesefreude erwähnt, die Lange fördert, indem er den Autor per Zitat ausgiebig zu Wort kommen läßt. Denn dieser geborene Unterhalter verfügte noch über Anlagen, die in der aktuellen Belletristik fast ausgestorben scheinen: Humor und Selbstironie.



Prof. Dr. Günter Scholdt ist Historiker und Germanist. 2022 erschien sein Buch „Schlaglichter auf die ‘Innere Emigration’. Nichtnationalsozialistische Belletristik in Deutschland 1933–1945“.

Foto: Werner Bergengruen (1892–1964): Der Publikumsliebling stand meist quer zum Zeitgeist

Eckhard Lange: Werner Bergengruen. Ein Letzter seiner Art. Georg Olms Verlag, Baden-Baden 2024, gebunden, 468 Seiten, 49 Euro