Schmale Jungen halten einen Mobilisierungsbescheid in der Hand. Ein Mann verteilt an die 15- bis 18jährigen Lebensmittelkarten, Uniformen, Waffen. Sie lernen, was bei Luftalarm zu tun ist, wie Gräben auszuheben sind und wie Erste Hilfe zu leisten ist. An der Wand des Schulhauses befinden sich Gedenktafeln. Sie erinnern an andere junge Menschen, Freiwillige aus Norwegen, Dänemark, Flandern, die hier vor achtzig Jahren zusammen mit Deutschen und Esten versuchen, die Rote Armee im Sommer 1944 aufzuhalten. Die Pädagogen des „Vaivara Sinimägede Muuseum“ nahe der estnisch-russischen Grenze, das sich der „Schlacht um die Tannenbergstellung“ widmet, haben sich ein möglichst realistisches Programm für interessierte Schüler ausgedacht, und dieses dreht sich um den Kampf des kleinen baltischen Volkes um seine Unabhängigkeit.
SS-Freiwillige aus fast einem Dutzend europäischer Staaten
Die jungen Esten, die am Geschichtsspiel teilnehmen, müssen sich entscheiden, auf welcher Seite sie kämpfen wollen: auf der der Sowjets oder mit anderen europäischen Freiwilligen in der Waffen-SS? Interessanterweise entscheiden sich viele nicht für die Uniform eines Soldaten des 8. Estnischen Schützenkorps der Roten Armee, sondern für das Flecktarn jener, die letztlich vergeblich ihr Heimatland in den Reihen der Deutschen verteidigen.
Noch heute gelten im Baltikum die Veteranen der drei aus Esten und Letten aufgestellten Waffen-SS-Divisionen als Freiheitskämpfer. In Estland gibt es dazu sogar seit 2012 einen Parlamentsbeschluß. Das kleine Museum befindet sich zwischen der Stadt Narwa und den Blauen Bergen (Sinimägede lahing) im Dörfchen Sinimäed. In seiner Nähe sind in der Landschaft noch die dritte Petersburger Verteidigungslinie aus dem Ersten Weltkrieg und die deutsche Tannenberglinie aus dem Zweiten Weltkrieg zu erkennen. „Von Februar bis September 1944 fanden hier an der Narva-Front schwere Abwehrkämpfe statt, die Ende Juli in der Schlacht in den Blauen Bergen ihren Höhepunkt fanden“, heißt es auf der Internetseite des Museums: „Das Korps hielt die Blauen Berge fast zwei Monate lang gegen einen eindringenden Feind mit einer vierfachen Mannstärke und zog sich im Zuge des allgemeinen Rückzugs der Front Mitte September von dort zurück.“
Gemeint ist der Widerstand des III. (germanischen) SS-Panzerkorps unter Felix Steiner, der den Vormarsch der Roten Armee nach Estland sogar um mehr als fünf Monate verzögerte. Und die Esten legen noch heute viel Wert darauf, daß sie damals nicht allein, sondern gemeinsam mit Freiwilligen aus Dänemark, Norwegen, Belgien, den Niederlanden, Frankreich, Italien, Spanien, Volksdeutschen aus Ungarn und Rumänien sowie Lettland gegen den Bolschewismus und für die Verteidigung ihrer Heimat kämpften.
Während aus deutscher Sicht die Kämpfe bei Narwa und der Widerstand des von SS-Obergruppenführer Felix Steiner geführten Panzerkorps nur eine Episode in den Rückzugskämpfen des Jahres 1944 darstellten, ist es aus estnischer Sicht ein entscheidendes Kapitel: Die Kämpfe bei Narwa gelten als die blutigsten, die auf estnischem Boden stattfanden. Aber auch wenn die Sowjets am 22. September in der estnischen Hauptstadt Reval (Tallinn) einmarschieren, sind sie aus estnischer Sicht nicht umsonst gewesen. Der Vormarsch der Roten Armee kann verzögert werden, was vielen Esten Zeit gibt, in den Westen zu fliehen. Aber ein Politikum ist dieses Kapitel noch heute, weil estnische Formationen auf beiden Seiten der Front kämpften und weil in der Region seit der sowjetischen Okkupation viele Russen leben.
Militärhistorisch ordnen sich die Gefechte in die am 14. Januar 1944 beginnende Offensive gegen die Heeresgruppe Nord von Generalfeldmarschall Georg von Küchler ein. Stalins Ziel ist es, die Deutschen aus ihren Stellungen bei Oranienbaum zu vertreiben, nach Estland vorzustoßen, die 18. Armee einzukesseln und zu vernichten sowie Finnland zu Friedensverhandlungen zu zwingen. All das gelingt letztlich, aber nicht im von Stalin vorgegebenen Zeitplan.
Zwar können die Russen schnell die Wehrmacht auf neue Stellungen am Westufer der Narwa zurückwerfen, aber die strategisch wichtige Stadt Narwa wird nicht erobert. Und nach zwei Monaten fortwährender Offensiven entlang der Narwa-Linie mit hohen Verlusten und zahlreichen Rückschlägen geht auch der sowjetischen Armee im April kurzeitig die Puste aus.
Ohne daß den Russen der Durchbruch durch die Verteidigungslinie gelungen ist, beschließt Steiner am 23. Juli und entgegen eines ausdrücklichen Führerbefehls, die exponierte Stellung an der Narwa aufzugeben und südwestlich die vorbereitete Tannenberglinie zu beziehen. An dieser können zwischen Ende Juli und Anfang August immer wieder von den Sowjets begonnene Offensiven gestoppt werden. Am 10. August werden die Angriffe schließlich eingestellt. Die Rote Armee hat anderenorts Durchbrüche erzielt. Und schließlich erkennt selbst Hitler die aussichtslose Situation und ordnet am 16. September den Rückzug aus Estland an.
Im Kriegstagebuch der Armeeabteilung Narwa heißt es für den 19. September, die „Absetzbewegungen sind planmäßig angelaufen“. Während der Bericht lediglich die hohen Kfz-Ausfälle der SS-Division Nordland festhält, ist der Zustand der estnischen Division besorgniserregend. Mit dem angeordneten Rückzug aus der Heimat und angesichts der schweren Verluste ist die Stimmung der Truppe rapide gesunken. Allein für Juli werden 1.571 Desertationen verzeichnet, und als am 16. August russische Einheiten bei Mehikoorma am Westufer des Peipussees landen, setzen die beiden estnischen SS-Grenzschutz-Regimenter dem kaum noch Widerstand entgegen. Um weiteren Auflösungserscheinungen entgegenzuwirken, wird die estnische 20. Waffen-Grenadier-Division daher nach Lettland verlegt und von dort zur Auffrischung auf den Truppenübungsplatz Neuhammer in Schlesien, wo sie wieder eine Stärke von 13.500 Mann erreicht und bis Kriegsende gegen die Sowjets kämpft.
Foto: Waffen-SS-Soldaten in der zerstörten Stadt Narwa 1944: Der Vormarsch der Roten Armee kann verzögert werden, was vielen Esten Zeit gibt, in den Westen zu fliehen